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Die Leichtigkeit des Feierabends – von Andrea Gärtner

Der Text entstand im Kurs „Pack die Badehose ein“ – Aufgabe: In Sommerstimmung kommen

Andrea Gärtner Jahrgang 1974, lebt und arbeitet in Südniedersachsen. 2017 erschien ihr erster Roman „Herzfehler“.

Die Leichtigkeit des Feierabends

Sie parkt das Auto und schnappt nach ihrer Handtasche. Die Post vom Nebensitz klemmt sie unter den Arm. Während sie den Wagen abschließt, entsperrt sie schon das Handy, um die eingegangenen Nachrichten zu lesen.

Ihre Mutter schickt einen Einkaufszettel, mit der Frage, ob sie das Gewünschte auf dem Wochenmarkt besorgen könne. Sie seufzt. Das heißt dann, schon um sechs aufzustehen, wenn sie vor der Arbeit den Einkauf und eine Runde Sport absolvieren will.

Eine Freundin bittet um Rückruf. Es geht um die Besorgung eines Geschenks für einen gemeinsamen Freund. Vermutlich wird das wieder an ihr hängen bleiben. „Da hast eben immer die besten Ideen!“, heißt es dann. Sie kann es nicht mehr hören.

Sie ist bei der Haustür angekommen. Als sie nach dem richtigen Schlüssel am Bund sucht, fallen zwei der Brief herunter, die bislang unter dem Arm klemmten. Sie flucht, bückt sich und hebt sie auf. Beim Hochkommen stößt sie mit dem Kopf gegen den Türgriff. Sie hält kurz inne, atmet tief ein und schnaufend wieder aus, dann betritt sie das Haus. Das Treppenhaus riecht nach Zitrone und feuchter Luft. Sie hinterlässt deutliche Tapsen auf den frisch gewischten Fliesen. Sofort steigt das schlechte Gewissen in ihr auf.

Das Handy in der Hand summt und zeigt den Eingang einer neuen Nachricht an. „Es war ein Alptraum“, kann sie lesen. Das gestrige Date ihres Bruders scheint sich nahtlos in die vorherigen Misserfolge einzureihen. Man könnte meinen, er bekäme langsam Übung. Stattdessen wird sein Mitteilungsbedürfnis nach jedem Fiasko größer. Er wird keine Ruhe lassen, ehe sie ihn nicht zurückgerufen hat.

Da darf er sich aber hinten anstellen. Zuerst muss sie sich heute endlich bei der erkrankten Kollegin melden. Schließlich ist sie die Einzige, die über den neuen Chemozyklus informiert ist und sie schiebt die fürsorgliche Nachfrage schon seit einer Woche vor sich her.

Auf der Fußmatte vor ihrer Wohnung wartet ein Paket. Groß und sperrig verwehrt es ihr den Zutritt in ihr Reich. Na prima, dann ist das sicher der bestellte und sehnsüchtig erwartete Schreibtischstuhl. Ihre Freude wird durch das Wissen getrübt, dass der erst zusammengebaut werden muss, ehe er einsatzbereit ist. Bis dahin stehen sowohl die alte Krücke, wie das Paketmonstrum im Weg herum.

Seufzend legt sie Handy, Handtasche und Post auf dem Paket ab und beugt sich darüber, um die Wohnungstür aufzusperren. Vorsichtig, den Karton von Ecke zu Ecke wippend, bugsiert sie endlich alles in ihren Flur, quetscht sich daran vorbei und marschiert schnurstracks in die Küche. Den Wasserkocher füllen, die Teekanne vorbereiten und einen Becher vorab mit einem Schuss Milch befüllen, gelingt fast automatisch.

Doch dann stutzt sie und hält mitten in der Bewegung inne. Auf der Schaukel vor dem Fenster sitzt ein Engel.

Die Milch läuft am Becher vorbei, über die Arbeitsplatte und tropft auf den Boden. Das Plätschern weckt sie aus der Starre. Sie blinzelt, sieht auf die Milchpfütze zu ihren Füßen und wieder hinaus.

Auf der Schaukel vor dem Fenster sitzt noch immer ein Engel. Er schaukelt sacht hin und her, so dass seine Flügel leicht im Wind streichen. Es sind helle Schwingen, fast durchsichtig, aber durchzogen von kräftigen Adern. Sie muss an Libellenflügel denken. Denen nicht unähnlich changiert der Farbton dieser Flügel vor ihrem Fenster zwischen rosa und creme hin und her. Kaum vorstellbar dass sich mit diesen Flügeln ein kräftiger Schlag ausführbar ist, der zu guter Letzt etwas abheben lässt. Zu zart und schimmernd erscheinen sie ihr.

Sie schüttelt sacht den Kopf und schließt die Augen. Das ist doch verrückt. Als ginge es um die aufsehenerregenden Flügel. Als wäre es nicht ominös genug, einen Engel auf der Schaukel sitzen zu haben. Offenkundig war sie völlig überspannt, ausgelaugt und überlastet, so dass ihr müdes Hirn ihr verrückte Streiche spielte.

Sie lässt die Augen geschlossen und klopft vorsichtig gegen die Scheibe. Erst danach hebt sie die Lider und ist nicht sicher, ob sie sich wünschen soll, dass der Engel noch da ist.

Er ist noch da. Jetzt schaut er sie an und lächelt ihr zu. Außerdem klopft er aufmunternd auf die Schaukel, als würde er sie einladen, neben ihm Platz zu nehmen. Ausgemachter Blödsinn, die Schaukel ist ja für ihre ausladende Hüfte schon eng. Undenkbar, dass dort zwei Gestalten sitzen könnten. Sie schüttelt den Kopf. Kommuniziert sie gerade tatsächlich mit einem Engel?

Der Engel klopft energischer und nickt ihr zu.

Sie stellt die Milchtüte ab und tapst zur Balkontür. Auf dem Flur hört sie ihr Handy surren. Das Paket fällt ihr wieder ein, der Einkaufszettel, ihr Bruder und die malade Kollegin. Doch vor ihrem inneren Auge sieht sie die schimmernden Flügel im Wind sachte wiegen. Sie tritt auf den Balkon, der Engel lächelt sie an. Zögerlich lächelt sie zurück. Soll sie es wagen?

Sie streckt die Hand aus und greift nach dem Seil an der Schaukel. Rau gleitet es durch ihre Finger. Es fühlt sich real an. Dazu bringt sie das sachte Schaukeln des Engels durch ihr Eingreifen aus der Spur. Der Engel lächelt noch immer.

Seine Flügel schimmern und glänzen, sie wogen und fächern hin und her. Solche Flügel müsste man haben, überlegt sie. Abheben, mit Abstand schauen, den Überblick zurückgewinnen und dann wieder landen und genau wissen, was richtig ist und gut.

Der Engel klopft erneut neben sich auf die Schaukel. Sie fasst all ihren Mut zusammen, tritt auf ihn zu, dreht sich um und setzt sich vorsichtig hin – jederzeit bereit, wieder aufzuspringen, falls der Platz nicht reicht oder sie – wie unangebracht – auf dem Schoß des Engels landet.

Sie sitzt. Die Schaukel schwingt sacht hin und her. Der Engel ist verschwunden. Aber das Lächeln ist geblieben. Und auf ihren Schultern liegt ein glänzendes Schimmern.

(Foto: Julian Hanslmaier / Unsplash)

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Hanne Landbeck

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