Wie gelähmt – Gastbeitrag zum Corona-Tagebuch von Claudia Nentwich
Claudia Nentwich lebt in Berlin. Die Singer-Songwriterin und Autorin Claudia Nentwich hat bisher sieben CDs und zwei Bücher veröffentlicht, ihr drittes Buch wird 2020 im KLAK Verlag erscheinen. Seit 2007 ist sie Gastgeberin der Veranstaltungreihe Songs ohne Boot
Das Corona-Tagebuch war ein Themen-Special von schreibwerk berlin vom 23. März bis zum 1. Mai 2020.
Berlin, 16.04.2020
Gelähmt von meinen Gefühlen
Wie immer dauert es etwas bei mir, bis ich es schaffe, eine neue Situation zu bearbeiten, geistig und körperlich. Das hat etwas damit zu tun, dass meine physische Gesundheit von Kindesbeinen an wacklig ist, und dass ich hypersensibel bin und mir schnell alles zu viel wird. Auch in der Corona-Krise konnte ich das wieder beobachten, gelähmt und von meinen Gefühlen überwältigt, war es für mich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Gestern kam mir in den Sinn, dass mich diese Krise mit ihren Bewegungseinschränkungen an das Jahr 2000 erinnert oder besser die Erinnerungen daran triggert. Ein Jahr, das ich hauptsächlich zuhause verbracht habe, wegen einer Chemotherapie. Diese Zeit, in der ich so schwach war, dass ich die Wohnung kaum verlassen konnte, habe ich noch in guter schlechter Erinnerung.
Der Unterschied zur Situation heute: Sie war zusätzlich noch mit Schmerzen und anderen Zipperlein „garniert“. Ein erlesenes Potpourri aus Kontrollverlust, Depression, Suizidgedanken, Einsamkeit und Zukunftsangst. Ein Jahr mit Bangen, Hoffen und Ausharren. Wird die Therapie anschlagen, wird mein Leben wieder Fahrt aufnehmen, werde ich jemals wieder Energie haben, irgendwas zu unternehmen, das mir Spaß macht? Wird mir jemals wieder etwas Spaß machen? Ja, ich gebe zu, Spaß haben ist mir wichtig, schon immer.
Vielleicht habe ich es auch ab und an etwas übertrieben und es hat dann letztlich doch gar nicht so viel Spaß gemacht, wie ich dachte. Aber die wenigstens Dinge im Leben erringt man aus einem Pflichtgefühl heraus, man muss schon mit dem Herzen dabei sein und es sollte eben auch Spaß machen. Das ist vielleicht jetzt sehr oberflächlich, aber momentan ist Spaß ein eher unterentwickelter Aspekt in meinem Leben. So viel ist sicher, im Gegensatz zum meisten anderen.
Im Gegensatz zu 2000 geht es mir körperlich ok, aber ab und zu (mehrmals täglich) frage ich mich, was mir gerade die Energie raubt. Mein Unterbewusstsein scheint megaaktiv zu sein, während meiner Körper sich offenbar abgeschaltet hat. Neulich habe ich an einem Energie-Webinar teilgenommen. Man sollte sich im Sitzen von der Wirbelsäule abwärts mit der Erde verbinden und ich dachte plötzlich, na sowas, interessant! Wo war mein Körper eigentlich in den letzten vier Wochen? Aber rutscht nicht letztlich alles weg? Nicht nur der Körper? Ich kann mich emotional kaum engagieren. Es scheint alles wie abgespalten, weit weg.
Opferkonkurrenz
Ich habe den Eindruck, dass ich nicht sagen darf, wie es mir geht. Es scheint sozial unerwünscht zu sein. Deshalb rede ich auch nicht viel darüber, auch wissend, dass es natürlich besser ist, dem Negativen nicht zu viel Raum zu geben. Ich sage nicht, dass ich mich wie gelähmt fühle, unproduktiv auf mich selbst zurückgeworfen. „Aber anderen geht es doch viel schlechter als dir!“ Ja, danke, das war mir vorher so nicht klar. Heißt das, ich bin nicht in der Lage, das große Ganze zu sehen? Glaubenssätze aus meiner Kindheit tauchen auf: Ich habe kein Recht auf meine Gefühle, ich bin egoistisch. Ja, alle leiden, aber heißt das, ich muss so tun, als wäre für mich alles kein Problem, um die anderen nicht zu belasten?
Leider erinnert mich auch das wieder an die Zeit der Chemo. Wo mir Menschen aus meinem Umfeld gehäuft signalisiert haben, dass ihnen mein Leiden, meine Diagnose so sehr zusetzen und sie sich deshalb distanzieren (müssen). Ein Wort kommt mir in den Sinn: Opferkonkurrenz. Das Bewerten und Gegenüberstellen von individuellem Leiden. Mir ist vollkommen klar, dass es uns hier in Berlin in der Regel sehr gut gelingt, das Überleben zu sichern. Und trotzdem, es gibt Tage, da geht es eben weniger gut. Da liegen die Nerven blank. Dann werde ich schnell aggressiv oder depressiv. Dann machen mich die Kaugeräusche meines Mannes rasend. Dann will ich raus, weg, bekomme keine Luft, fühle mich eingesperrt.
Die hektische Überaktivität im Internet setzt mich unter Druck. Muss ich das jetzt auch machen, um nicht von meiner Community vergessen zu werden? Es regt mich auf, dass Frauen in den sozialen Medien weniger sichtbar sind. Habe aber selbst auch keine Lust ständig was zu posten. Dieses ganze Geposte und Gestreame schluckt ja exorbitant viel Energie, was aber gerade überhaupt kein Thema zu sein scheint. Die Umweltaspekte dieser Krise und das vorhersehbare Desinteresse in Bezug auf das Einhalten und Verfolgen von Klimaschutzzielen danach bedrücken mich auch. In welche Richtung man sich auch dreht…
Wie willenlose Lemminge
Pauschalisieren und Werten ist nicht besonders smart, aber in diesem Moment möchte ich kein Gutmensch sein. Ich möchte alles rauskotzen. Vor allem, wenn ich sehe, dass auf dem Grünstreifen neben Lidl über Nacht eine alte Kaffeemaschine und Betonreste abgeladen wurden. Daneben liegen lilafarbene Plastikhandschuhe in den frisch erblühten Tulpen. Dann packt mich diese absolut selbstgerechte Wut, dass wir überhaupt nicht verdienen weiterzuleben. Unsozial und dumm wie wir sind. Gierig.
Wie willenlose Lemminge, die nicht vom Weg abzuweichen können. Die es nicht schaffen, etwas zum Besseren zu verändern. Zum Beispiel einen kriminellen Idioten von der Macht abzuschneiden, die ihm das Recht gibt, über das Wohl von Milliarden Menschen zu entscheiden. In Gedanken schreibe ich weiter an der Liste der nationalistischen Populisten, die sich schon seit längerem, es kommt ja alles immer wieder, auf dem politischen Parkett breitmachen, scheinbar unaufhaltbar ihr Gift verbreiten. Und dann geht das immer weiter so und eins führt zum anderen und ich möchte einfach nur schreien. Aber es wird keine einfachen Antworten und leichten Wege geben, wir müssen einfach dranbleiben. Ich weiß.
Gestern Abend gab es dann doch noch einen schönen Moment, bei der Pressekonferenz nach der Ansprache von Frau Merkel zum weiteren Vorgehen. Die anwesenden Politiker, ihrer Verantwortung sehr bewusst, gehen respektvoll miteinander um, loben die Zusammenarbeit und hoffen, dass das in Zukunft so weitergeführt wird. Vielleicht ist das auch passend zur handlungsleitenden Krisen-Maxime: We care! Das wäre mit Sicherheit auch ein gutes Motto für die Zeit danach. Und die wird es geben.
Titelfoto: Lisa Schroeder