
Paris kann Stadt
Paris atmet
Als ich in den 90er Jahren in Paris lebte, kaufte ich mir ein Fahrrad in der Samaritaine. Ein schlichtes, hellblaues Damenrad mit Korb – très parisien, dachte ich damals. Ich erinnere mich noch genau, wie ich damit das Kaufhaus verließ – und draußen erst einmal stehen blieb. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit diesem Rad heil nach Hause kommen sollte. Paris war ein einziger Strom aus hupenden Autos, dicht geparkten Lieferwagen, zu engen Fahrbahnen und einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber allem, was nicht aus Blech war. Radwege? Gab es nicht. Ich schlängelte mich irgendwie durch, kam tatsächlich an – aber fuhr nie wieder Rad in dieser Stadt. Höchstens am Canal Saint-Martin entlang, da war es einigermaßen erträglich.
Drei Jahrzehnte später
Und jetzt – drei Jahrzehnte später – fahre ich durch dieselbe Stadt. Auf dem Fahrrad. Mitten auf der Rue de Rivoli. Entspannt.
Ich rolle an begrünten Trenninseln vorbei, über breite, geschützte Radwege, zwischen Menschen, die flanieren, plaudern, sitzen, lesen. Wo früher Motoren dröhnten, rauscht jetzt nur der Sommerwind. Ich halte an der Place de la Bastille: Kinder rennen kreischend durch feine Wasserschleier, die aus dem Pflaster steigen. Kein Brunnen, kein Spektakel – nur ein sanfter Nebel, der die Luft kühlt. Ein alter Mann sitzt im Schatten, ein Croissant auf dem Schoß, als hätte er nie anders gelebt. Paris, mon amour.
Paris hat sich neu erfunden
Paris hat sich verändert – und zwar tiefgreifend, sichtbar und spürbar. In weniger als 20 Jahren ist die Stadt zu einem Vorbild für urbane Transformation geworden. Statt Autolärm und Abgasen gibt es heute Sitzbänke, Bäume und Boulespieler unter Platanen. Die Schnellstraßen am Ufer, einst von Blechlawinen blockiert, sind heute autofrei – Menschen sitzen dort mit Blick aufs Wasser, essen, lesen, spielen. Was früher Parkplatz war, ist nun Aufenthaltsraum geworden: offen, grün und lebendig.
Das ging nicht über Nacht, aber in klaren, mutigen Schritten. Die Stadt hat den öffentlichen Raum nicht nur verschönert, sondern ihm eine neue Funktion gegeben. Er dient nicht länger primär dem Durchkommen, sondern dem Dableiben. Es geht nicht nur um Mobilität, sondern um Atmosphäre. Um Luft. Um Temperatur. Um Lebensqualität.
Kühl statt kühl – Städte im Klimamodus
Was auf den ersten Blick wie Urban Gardening oder Fahrradfreundlichkeit aussieht, ist in Wahrheit eine sehr kluge Antwort auf den Klimawandel. Paris ist heiß geworden – wie viele europäische Städte. Hitzewellen, Trockenheit, Stickigkeit in den Straßen. Die alte Steinstadt hielt Wärme wie ein Speicher. Nun begegnet man dem mit Konzept – aber auf poetische Weise.
Es gibt Wasserspiele, die nicht beeindrucken wollen, sondern kühlen: Nebeldüsen statt Fontänen. Feine Schleier steigen aus dem Pflaster, machen Plätze begehbar, auch in der Mittagshitze. Die Bäume sind nicht mehr Beiwerk, sondern Infrastruktur. Bänke stehen dort, wo es Schatten gibt. Asphalt wurde entsiegelt, Plätze neu gepflastert – oft hell, reflektierend, wasserführend.
Ein kleiner Platz im Marais: Kinder rennen lachend durch den feinen Nebel. Eine alte Frau hält ihr Gesicht in den Schleier. Niemand wird vertrieben. Niemand muss konsumieren, um hier sein zu dürfen. Es gibt Raum für Bewegung – aber auch für Ruhe.
So fühlt sich eine Stadt an, die verstanden hat, was auf sie zukommt – und handelt, ohne Angst zu machen.
Ein anderer Umgang mit der Zukunft
Diese Stadt reagiert nicht hektisch, sondern entschieden. Und sie kommuniziert den Wandel nicht als Verlust, sondern als Gewinn. Die Begrünung ist nicht moralischer Zeigefinger, sondern Einladung. Die autofreien Zonen sind keine Verbote, sondern Alternativen. Wer in Paris unterwegs ist, begegnet nicht der Idee von Verzicht, sondern der Erfahrung von Möglichkeit.
Das ist vielleicht der größte Unterschied zu vielen anderen Städten: Paris hat eine Haltung. Es will etwas. Und es zeigt, wie das aussehen kann, ohne belehrend zu wirken.
Natürlich ist nicht alles ideal. Auch Paris hat seine sozialen Spannungen, seine überfüllten RER-Züge, seine Müllprobleme. Aber wer durch das Zentrum geht, merkt: Hier wurde über Jahre hinweg gestaltet – mit Konsequenz und mit Blick auf das Ganze.
Politischer Mut und öffentlicher Raum
Dass diese Transformation gelungen ist, hat viel mit der Stadtregierung zu tun. Anne Hidalgo, seit 2014 Bürgermeisterin, hat früh begonnen, den Wandel einzuleiten – und sich dabei nicht beirren lassen. Viele der Maßnahmen waren umstritten: die Sperrung der Seineufer, der Umbau der Boulevards, die Reduktion des Autoverkehrs. Aber sie hat nicht auf kurzfristige Zustimmung gesetzt, sondern auf langfristige Wirkung.
Dabei wurde nicht einfach „durchregiert“. Es gab Bürgerbeteiligung, Testphasen, Pilotprojekte. Es gab sogar Abstimmungen – etwa zur Abschaffung von Leihrollern. Aber immer mit klarer politischer Richtung: Paris soll klimafreundlicher, gesünder, menschenfreundlicher werden.
Und es wurde auch klar: Öffentlicher Raum ist keine technische Kategorie. Er ist sozial. Politisch. Sinnlich.
Eine Stadt als Vorbild – ohne sich aufzudrängen
Wenn man durch das neue Paris läuft oder fährt, ist man nicht eingeschüchtert. Man ist angeregt. Es ist kein Showroom für Weltstädte, sondern eine Einladung an alle, die ihre Stadt anders denken wollen.
Nicht jedes Detail ist übertragbar. Nicht jede Straße muss ein Boulevard werden. Aber die Haltung, mit der hier gestaltet wurde, lässt sich weitergeben: Dass Stadt mehr ist als Infrastruktur. Dass Lebensqualität nicht nach PS-Zahlen oder Parkplätzen gemessen werden muss. Dass Schönheit, Luft, Schatten, Ruhe keine Luxusfragen sind, sondern Teil der Grundversorgung.
Paris atmet. Leise, groß, offen.
Und was heißt das für uns?
Vielleicht ist das die stärkste Wirkung, die Paris im Moment entfaltet: nicht der Neid, sondern die Möglichkeit. Nicht das „So müssten wir auch“, sondern das „Vielleicht geht das ja wirklich.“
Vielleicht genügt ein Wochenende an der Seine. Ein Nachmittag unter einem Baum, mit Blick auf einen Platz, der kühlt. Vielleicht reicht ein Moment, in dem man merkt:
So kann Stadt auch sein.
Und: So kann Reisen auch sein. Das Bild, das man hatte, wird korrigiert. Schreiben auch Sie über Ihre Reisen. Bei schreibwerk berlin.
Kurt Walter
Am 14.08.25 konnte eine kleine Gruppe von Saarländern aus St. Ingbert genau diese hier gemachten Aussagen über das „neue“, lebenswerte Paris kennen lernen. Meine Frau und ich gehörten dieser Gruppe an. Genau wie Hanne Landeck, erkannte ich das Paris, das ich von früher her, als Autostadt kannte, nicht mehr wieder. Freundlich, voller Leben, zum Verweilen einladend, eine tolle Stadt – Paris – toller Bericht, Frau Landeck!
Hanne Landbeck
Danke sehr!