
Deutsche Identität – Ost
Ost-Identität: Suche im Rampenlicht – und der Westen schaut zu
Es ist schon merkwürdig: Seit der Wende suchen die Ostdeutschen nach ihrer Identität, als gäbe es irgendwo einen verlegten Schlüsselbund, der endlich gefunden werden muss. Man diskutiert in Talkshows, schreibt dicke Bücher, gründet Forschungszentren – alles im Namen der „Ostidentität“.
Die Westdeutschen hingegen? Kein Bedarf. Keine Konferenzen zur „rheinischen Seele“, keine Stuhlkreise über die „hessische Erfahrung“. Sie scheinen mit der Gewissheit geboren, dass ihre Identität schlicht „Deutschland“ heißt – fertig, verpackt, ab Werk.
Vielleicht ist genau das der Unterschied: Während der Osten Identität als Dauerprojekt begreift, läuft sie im Westen still und unspektakulär mit, wie eine Grundversorgung – Strom, Wasser, Westidentität. So selbstverständlich, dass man gar nicht merkt, dass man sie hat.
Oder anders gesagt: Im Osten bastelt man Identität wie IKEA-Regale – immer wieder neu zusammenschrauben, nicht alle Schrauben passen, aber am Ende steht irgendetwas, das man benutzen kann. Im Westen dagegen wirkt Identität eher wie ein Erbstück: Es steht im Wohnzimmer, keiner weiß so recht, woher es kommt, aber alle sind überzeugt, dass es „immer schon da“ war.
Diskutieren Sie mit uns und lesen Sie den Essay von Anja Hendel.Ist der Osten eine Erfindung des Westens? Essay von Anja Hendel
„Ist der Osten nur eine Erfindung des Westens?“ von Anja Hendel
Anja Hendel geht in ihrem Essay der Frage nach, ob es eine ostdeutsche Identität gibt – und wenn ja, worin sie besteht. Sie zeigt, dass „die eine“ Ostidentität nicht existiert: Zu unterschiedlich sind die Erfahrungen von DDR-Alltag, Wendezeit und Transformation. Manche verbinden mit der DDR Gemeinschaft und Werte, andere Repression, Stillstand oder Schuldgefühle.
Die Autorin schildert familiäre und persönliche Erfahrungen, verweist aber auch auf soziostrukturelle Unterschiede, die bis heute bestehen: niedrigere Vermögen, geringere Eigentumsquote, weniger Eliten aus dem Osten. Diese realen Unterschiede prägen das Gefühl vieler Ostdeutscher, Bürger zweiter Klasse zu sein.
Hendel diskutiert Theorien von Dirk Oschmann (Ost als westdeutsche Fremdzuschreibung) und Steffen Mau (empirisch belegte strukturelle Unterschiede). Während Oschmann den Osten als Projektionsfläche versteht, betont Mau die materiellen und politischen Rahmenbedingungen, die bis heute nachwirken.
Zugleich plädiert Hendel für ein Aufbrechen der Opferrolle. Statt in Trotz oder Nostalgie zu verharren, sollten Ostdeutsche sich untereinander verständigen, wie eine positive Identität aussehen könnte – jenseits von Kränkungen und westlichen Zuschreibungen. Identität, so ihr Fazit, ist vielfältig: geformt durch Herkunft, Beruf, Familie, Erfahrungen – und eben nicht allein durch Ost oder West.
👉 Lesen Sie den Essay und diskutieren Sie mit uns: Brauchen wir Identität überhaupt – oder nur gute Geschichten darüber? Wie geht es Ihnen damit?
Lesen Sie den Essay hier:
Ist der Osten eine Erfindung des Westens? Essay von Anja Hendel
Anja Hendel ist in Potsdam geboren und aufgewachsen. Sie hat in Berlin Sozialwissenschaften studiert, danach einige Jahre in Dänemark gelebt und arbeitet in der Erwachsenenbildung.
Foto von Jan Jobczyk auf Unsplash