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Schachtelsatz

Ist der Schachtelsatz en Woke?

Ist der Schachtelsatz en Woke?

Von der Unsicherheit im Umgang mit den Worten

Der Schachtelsatz ist nicht mehr en vogue. Dafür brauchte es noch nicht einmal die Woke-Bewegung (Aufwachen, Leute: alles ist falsch – wir ändern das!)

Thomas Mann schrieb sie noch: die Schachtelsätze. Und er erhielt im Jahr 1929 sogar den Literaturnobelpreis. Nicht nur für seine Schachtelsätze, sondern selbstverständlich auch für das, was er durch sie mitteilte: den Zerfall einer bestimmten Schicht. Gleich im dritten Absatz der Buddenbrooks lesen wir:

Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt.

Text auf politische Korrektheit lesen? 

Das würde heutzutage kein:e Lektor:in mehr durchgehen lassen. Dafür aber die Gendersprache, ob mit Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich. Und eine Lektorin würde den Text auf politische Korrektheit lesen – die bei dem oben zitierten Beispiel von Thomas Mann wahrscheinlich den „Löwenkopf“ träfe, der in unserer sauberen Welt kein Sofa mehr zieren soll.

In einer Kolumne wandte sich der FAZ-Autor Morten Freidel schon 2014 gegen das Schreiben in Häppchen – und wandelte spaßeshalber diesen Satz von Thomas Mann in die Parataxe um.

Bereinigungsbewegungen keine Erfindung der Neuzeit

Schon immer hat sich Sprache verändert, auch sind Bereinigungsbewegungen keine Erfindung der Neuzeit. Bereits die 1617 gegründete „fruchtbringende Gesellschaft“ wollte (nicht nur) die Sprache säubern. Sondern auch die damit transportierten Orientierungen und Werte.

Fürs ander/ daß man die Hochdeutsche Sprache in jhren rechten wesen und standt/ ohne einmischung frembder außländischer wort/ auffs möglichste und thunlichste erhalte/ uñ sich so wohl der beste(n) außsprache im reden/ alß d(er) reinesten art im schreiben uñ Reimen-dichten befleißige[n].

(DA Köthen II, Bd. 1, S. [10] u. [60]f.)

Einmischung fremder Worte im Schachtelsatz

Freilich war damals das Ziel ein anderes, nämlich eine gemeinsame und von allen verstandene (Schrift)Sprache zu erreichen. Die Ähnlichkeit mit heutigen Bemühungen besteht in der „Einmischung fremder Worte“. Befürchtete man damals eine Überfremdung der deutschen Sprache, so steht heute die Sorge um die unberechtigte Übernahme einer fremden Perspektive im Vordergrund. Bestes – und absurdestes – Beispiel war die Diskussion um die Übersetzung des Gedichts von Amanda Gorman. Nur eine schwarze Frau könne die Worte angemessen (ins Niederländische) übersetzen.

„Männer“ tilgen wir mal schnell aus dem Schachtelsatz

Turbulent entwickelten sich auch die Debatten um diskriminierende Sprache in Kinderbüchern, wie zum Beispiel den „Negerkönig“ in Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“. Jetzt hat es Roald Dahls Bücher getroffen, die umgeschrieben und ergänzt werden, damit das Publikum nicht vor Empörung aus dem Bett fällt, wenn er (oder sie) von „fetten Männern“ oder gar das Wort „weiblich“ liest. „Fett“ geht nicht mehr, weil man die Dicken (wahrscheinlich geht auch das nicht mehr) diskriminiert. „Weiblich“ ebenso wenig, denn wir wissen ja, dass es ungeheuer viele mögliche Geschlechter gibt. Und „Männer“ tilgen wir schnell mal auch, denn es gibt ja auch Frauen – und wie gesagt, viele, viele andere Sorten Mensch. Salman Rushdie hat den Verlag aufgefordert, sich zu schämen. Ich neige dazu, mich seiner Meinung anzuschließen.

Romane in Kurzsätzen

Egal wie man dazu stehen mag, die Zeiten ändern sich und die Sprache mit ihr. Um auf den Schachtelsatz zurückzukommen: Unternehmen führen (bzw. wollen/sollen das tun, die Wirklichkeit hinkt etwas hinterher) „flache Hierarchien“ ein – und das spiegelt sich in der Sprache wider. Waren früher Schachtelsätze auch ein Abbild der strengen Rangordnung innerhalb der Gesellschaft. Demgegenüber steht aktuell die Forderung nach gleicher Wertigkeit unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen an erster Stelle. Das ist durchaus berechtigt und vernünftig.

Vielleicht ist es weniger vernünftig (oder sagen wir mal: ästhetisch) – ganze Romane in Kurzsätzen zu schreiben. Ich jedenfalls finde das ermüdend.

Viel Wut im Gepäck

Möglicherweise ist es auch nicht unbedingt vernünftig, jedes, aber auch jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Der Überdruss an der Woke-Bewegung zeigt die entsprechenden Reaktionen. Da ist viel Wut im Gepäck. Weil der Angriff ja nicht nur die Worte meint, sondern dahinterstehende Werte- und Erfahrungsgefüge. Und damit ganze Lebensentwürfe. Nicht jede:r empfindet es als reines Vergnügen, seine Worte beständig zu bedenken. Und erst nach Prüfung auf Korrektheit den Mund zu öffnen. Ich finde, manche Dinge sollte man auch „durchgehen“ lassen.

Das geht

Dennoch bin ich verunsichert. Die berechtigten Interessen bisher unterdrückter Gruppen nach Wiedergutmachung oder zumindest nach Sichtbarkeit auch in den Medien und in der Literatur teile ich, meistens jedenfalls. Auch gefällt es mir, dass die Gesellschaft nun einige bisher ungesehene und ungehörte Perspektiven erlebt. Die erbitterte Diskussion hat viel gebracht, sichtbar in den Fernsehsendungen, die uns nun auch Menschen mit Handicaps (früher „Behinderte“ genannt) und Menschen unterschiedlicher Hautfarbe präsentieren (people of colour oder einfach POC). Abfinden kann ich mich leicht damit, keinen „Mohrenkopf“ oder „Negerkuss“ mehr zu verspeisen, sondern eine Schaumkreation, die wir dann „Schokokuss“ nennen. Das geht.

Was aber nicht geht

Was aber nicht geht – zumindest für mich – ist der Mangel an Toleranz. Das zeigt sich bei den meisten Debatten in den sozialen Medien, in denen oft die Todesstrafe ausgesprochen – oder zumindest angedroht wird. Das zeigt sich aber auch in Familien oder Freundschaften, die aufgrund der Themen der letzten Jahre zerbrachen. Ob für oder gegen die Impfung, ob für oder gegen die Waffenlieferungen, ob für oder gegen Schwein im Essen: all das – und noch viel mehr – führt zu erbitterten Kämpfen. Was steht an deren Ende? Eher keine flachen Hierarchien? Sondern ein der Moral? Eine der Guten. Derjenigen, die es besser wissen / besser machen?

So viele Fehler die Alten auch begangen haben – ich fürchte, die Jungen sind gerade dabei, es nicht besser zu machen.

Argumente der anderen Seite

Am Ende stehen wir vor einer gewaltigen Spaltung der Gesellschaft, die sich auch in der Sprache ausdrückt. Vielfalt würde bedeuten, Spannungen auszuhalten, Schachtelsätze genauso zu akzeptieren wie die kurzen. Argumente der anderen Seite zu bedenken, bevor man losschreit. Einen vernünftigen Umgang miteinander zu finden. Auch durch und mit der Sprache. Und auch das: Ein Werk Werk sein zu lassen. Aber ich fürchte, da befinde ich mich in der ganz falschen Ecke.

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Hanne Landbeck

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