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Himbeerernte

Himbeerernte – eine Story von Antje Roß

Himbeerernte

Himbeerernte: Eine Kurzgeschichte von Antje Roß aus dem Online-Kurs Kreatives Schreiben

Antje Roß wohnt in Berlin und liebt den Wortwitz. Für eine gelungene Pointe gibt sie sogar den Nachtisch her.

Trotz der frühen Stunde

An jenem Morgen, einem Dienstag im Juli, zirpten die Grillen besonders laut. Welch ein Glück, dass Gisbert aufgrund des warmen, trockenen Wetters bei offenem Fenster geschlafen hatte.
Geweckt durch den schrillen Insektengesang, setzte er sich ruckartig im Bett auf und schaute auf die Uhr. 05:17 leuchtete es neongrün von der Digitalanzeige seines Radioweckers. Für gewöhnlich wurde er erst Punkt halb sieben durch den Alarm wach. Trotz der frühen Stunde und obwohl er bis nach Mitternacht beim Online-Spiel versackt war, fühlten sich weder Augen noch Körper noch Geist müde an. Das Zirpen schien lauter, intensiver zu werden. Gisbert war, als wollten ihm die Tiere eine Botschaft übermitteln. Er konnte deren Inhalt nicht klar deuten, aber es schwang eine Ankündigung darin, dass dieser Dienstag im Juli kein gewöhnlicher werden würde. Gisbert fühlte ein verheißungsvolles Kitzeln im Bauch und wunderte sich sehr darüber, denn eigentlich war er kein Fan von Experimenten und Überraschungen. Dieses Mal musste er das Abenteuer suchen, das da draußen auf ihn wartete.

Ohne Frühstück

Gisbert stand auf, schnappte sich die oberste Jeans vom Klamottenhaufen neben der Wäschetonne, nahm frische Boxershorts und ein weißes T-Shirt aus dem Schrank und verschwand ins Bad. Im Schnelldurchlauf putzte er sich die Zähne, wusch sich und kämmte die Haare, bevor er ohne Frühstück um kurz vor sechs seine Wohnung verließ. Er sprang ins Auto, einen silbergrauen Passat 2010er Baujahr. Wohin sollte er fahren? Gisbert beschloss, den üblichen Weg ins Büro einzuschlagen. Sollte er sich alles nur eingebildet haben, würde er eben ausnahmsweise mal zu den frühen Vögeln gehören, entsprechend zeitig Feierabend machen und danach noch ins Freibad gehen.

Wohin soll es gehen?

An der Landstraße kurz vor der Zufahrt zum Firmengelände, wo Gisbert arbeitete, erblickte er eine Frau. Sie streckte den Daumen aus. Ein Rucksack stand zu ihren Füßen. Noch nie hatte Gisbert jemand Fremden im Auto mitgenommen. Doch an diesem außergewöhnlichen Tag beschloss er mit der Tramperin Kontakt aufzunehmen. Gisbert brachte sein Auto zum Stehen und ließ das Fenster der Beifahrerseite hinunter. „Wohin soll es gehen?“, fragte er. „Am Ende des Tages hoffentlich nach Visselhövede“, antwortete die junge Frau, die Gisbert auf zwischen siebzehn und zwanzig schätzte. Sie trug olivgrüne Pumphosen, ein lila Trägertop und hatte ihre rotgefärbten Dreadlocks mit einem Tuch zusammengebunden. „Visselhövede? Kenne ich. Zwischen Hannover und Bremen. Da habe ich meinen Wehrdienst abgesessen.

Das liegt aber nördlich von hier. Du stehst an der falschen Straßenseite.“ „Wirklich? So ein Mist!“, die Tramperin machte ein enttäuschtes Gesicht, „Danke trotzdem fürs Anhalten. Schönen Tag dir.“ Gisbert zögerte einen kurzen Moment, nahm dann seinen Mut zusammen und sagte: „Ich bin zwar auf dem Weg zur Arbeit, will da aber heute eigentlich gar nicht hin. Ich kann dich nach Visselhövede bringen, wenn du magst.“ Skeptisch schob die junge Frau die Augenbrauen zusammen und neigte den Kopf zur Seite. Gisbert erwartete eine Abfuhr. Er wollte gerade das Weite suchen, als die Tramperin ihm zublinzelte und sagte: „Einverstanden, aber ich fahre.“

Mindestens fünfzig Himbeersträucher

Gisbert rutschte umständlich über den Schaltknüppel hinweg auf den Beifahrersitz. Die junge Frau ließ sich hinters Steuer plumpsen, grinste Gisbert freundlich an und fuhr los. „Bist du immer so spontan und großzügig?“, fragte die Mitfahrerin. Er zuckte mit den Achseln. Bevor er zu charakterlichen Selbsteinschätzungen genötigt wurde, fühlte er sich wohler, wenn sie sich zumindest offiziell vorstellten: „Ich heiße Gisbert. Und du?“ „Sinja. Freut mich wirklich dich kennenzulernen, Gisbert. Willst du wissen, was ich in Visselhövede mache?“

Er nickte. „Meine Oma Gertrud hat einen kleinen Bauernhof, der ist von mindestens fünfzig Himbeersträuchern umgeben. Die Beeren sind reif und ich habe versprochen, das Ernten zu übernehmen. Das ist nämlich ganz schön mühsam. Abends tut einem das Kreuz weh vom vielen Bücken und der Bauch vom vielen Naschen. Zumindest wenn man so einen säureempfindlichen Magen hat wie ich.“ Gisbert wollte etwas Angemessenes erwidern, aber das Ideenzentrum in seinem Kopf war lahmgelegt. Als Sinja Luft holte, um fortzufahren, entfuhr ihm ein „Da möchte ich gern dabei sein.“

Konnte sie Gedanken lesen? 

Sinja fuhr nicht besonders rasant, aber überholte zielstrebig langsamere Brummis, bevor sie sich wieder in die rechte Spur einfädelte. Sie erzählte vom Bauernhof ihrer Großmutter, auf dem sie als Kind Kälbchen gestreichelt hatte und auf dem Traktor mitgefahren war. „Hast du Hunger?“ Entgeistert schaute Gisbert Sinja an. Konnte sie Gedanken lesen? Sinja deutete seinen Blick richtig: „Deine Füße sind in der letzten Viertelstunde immer nervöser auf der Gummimatte hin und her gerutscht. Entweder du musst dringend was essen oder eine rauchen. Aber da du nicht aussiehst und vor allem nicht riechst wie ein Raucher, habe ich auf Ersteres getippt“, fügte sie erklärend hinzu.

„Bei der nächsten Raststätte ist ein Mäckes. Und es sind auch gerade American-Breakfast-Wochen“, sagte Gisbert und beim Gedanken an einen Frühstücksburger lief ihm das Wasser im Mund zusammen. „Ich mag keine Fastfood-Restaurants“, wandte Sinja ein „und meine Oma sagt immer, man soll durch sein Konsumverhalten lokale Handwerksbetriebe stärken. Wenn du noch ein bisschen durchhältst, lass uns bei der nächsten Abfahrt rausfahren und im ersten Dorf zum Bäcker gehen. Bis dahin nimm dir meinen Apfel. Er ist in der Kühltasche und die findest du in meinem Rucksack unter den Plastikdosen.“ Gisbert kramte in Sinjas Sachen. Er fand die Kühltasche, fischte den einsamen Apfel vom silberfolierten Boden und fing an, gegen den Kohldampf anzunagen.

Stimmungsrettende Sofortmaßnahme

Gisbert trat mit zwei großen Papiertüten voller Croissants, Mohnbrötchen und Rosinenschnecken aus der Bäckerei und lief zurück zum Auto. Zwischen seinen Lippen klemmte ein halbes Hörnchen, das er sich als stimmungsrettende Sofortmaßnahme unverzüglich zugeführt hatte. Sinja war ebenfalls aus dem Fahrzeug gestiegen. Sie war nicht allein. Eine Frau stand bei ihr. Diese hatte den Ellenbogen an die Dachreling des Passats gestützt. Der Kopf lag in ihrer Armbeuge. Sinja streichelte ihr behutsam über den Rücken, der sich ruckartig hob und senkte. Als Gisbert näher kam, merkte er, dass die Frau schluchzte. „Das ist Carola. Sie hat mich aufgelöst gefragt, ob sie mein Handy benutzen darf, um ein Taxi zu rufen. Ich wollte wissen, was mit ihr los ist. So wirklich blicke ich noch nicht durch, aber sie und ihr Mann haben Streit. Er gibt Carola die Schuld daran, dass die Tochter ihr Jurastudium schmeißen will.“

„Und erst einmal als Barkeeperin jobben“, fügte Carola heulend hinzu „Unsere Tochter war immer ein sensibles Kind. Den massiven Druck im Studium verkraftet sie einfach nicht. Mein Mann gibt mir die Schuld. Er sagt, den mangelnden Ehrgeiz hätte sie sich von mir abgeschaut. Außer Hausfrau und Vierhundert-Euro-Aushilfe im Blumenladen sei ja aus mir auch nichts geworden.“ Gisbert war es höchst unangenehm in den Ehestreit fremder Leute reingezogen zu werden. Er wollte sich der Situation möglichst rasch entziehen. „Wir müssen weiter, die Himbeeren bei Sinjas Oma ernten“, sagte er. „Das stimmt. Es ist noch Platz im Auto. Komm mit, das bringt dich auf andere Gedanken“, schlug Sinja vor.

Himbeerwissen

Carola hatte aufgehört zu weinen und war Feuer und Flamme Sinjas Oma bei der Ernte zu unterstützen. Von der Rückbank aus ließ sie ihre Mitreisenden an ihrem Himbeerwissen teilhaben – welche Sorten es gibt, wie man sie anbaut und wieso sie gesund sind. Carola und Sinja fachsimpelten auch darüber, wie man den dornigen Zweigen beim Pflücken ausweicht und welche Hausmittel gegen rote Finger helfen. Gisbert stellte erstaunt fest, wie viel Interesse er für die Früchte aufbringen konnte, mit denen bisher vor allem die gebutterte Seite seines Frühstückstoasts in Berührung gekommen war.

„Ich kaufe immer das Vierhundert-Gramm-Glas Himbeermarmelade beim Discounter. Und im Angebot auch die leckere französische,“ unterbrach Gisbert den Dialog der Expertinnen. „Ja, die französische kann man gut essen“, pflichtete ihm Carola bei „Aber nichts geht über eine selbst gemachte aus frisch geernteten Beeren. Hast du schon mal Marmelade gekocht? Wenn nicht, solltest du das unbedingt nachholen. Ich bringe es dir gerne bei.“

Das Schaf blökte

Während sie von der Autobahn abfuhren, waren die drei Erntehelfer noch ins Gespräch über ihre Himbeererfahrungen vertieft. Plötzlich stieg Sinja in die Eisen. Mitten auf der Fahrbahn stand ein Schaf. Das Schaf blökte erzürnt, als ihm das Auto zu dicht auf den Pelz rückte. Es machte aber keine Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen. Gisbert stieg aus und ging auf das Schaf zu. Bis zum Horizont erstreckten sich Äcker und Felder, aber Herden, Schäfer oder Weiden waren keine zu sehen. Das Schaf glotzte ihn an und käute lässig eine vorangegangene Mahlzeit. Gisbert war nicht der Typ dafür, es bei den Hörnern zu packen und auf diese Art den Weg freizumachen.

Schaf(Foto von Flavio Gasperini auf Unsplash)

Und auch das Schaf machte nicht den Eindruck, dass es sich so behandeln ließe, zumal es einer unbehörnten Gattung angehörte. Gisbert beschloss, das Schaf mitzunehmen. Ein frei herumlaufendes Schaf stellte schließlich eine große Gefahr für Mensch und Tier dar. Ferner könnte sich das Schaf nützlich machen und den Rasen in Oma Gertruds Garten kurzhalten. Gisbert lockte es mit einem Stück Croissant und öffnete den Kofferraum. „Und wie soll es da raufkommen?“, wandte Carola ein. Sie hatte ihre Frage noch nicht beendet, da tat das Schaf einen Satz und machte es sich neben der halbvollen Brötchentüte bequem.

Leuchtend rote Früchte

Es war am frühen Nachmittag, als der silbergraue Passat das gelbe Schild mit der Aufschrift „Visselhövede Landkreis Rotenburg (Wümme)“ hinter sich ließ. Zuvor hatte Gisbert an einer Tankstelle vollgetankt und auf Sinjas Bitte hin drei Cola und eine Packung Eiswürfel mitgebracht. Die Eiswürfel ließ sie Gisbert in der Kühltasche verstauen. Die Cola war als unmittelbare Erfrischung gedacht. Sinja trank in hastigen Schlucken und lenkte das Auto mit der freien Hand eine holprige Straße entlang. An deren Ende bog sie in einen Sandweg ein, der zu einem Gehöft führte. Tatsächlich waren die leuchtend roten Früchte der Himbeersträucher, die das Grundstück umsäumten, aus dem Autofenster heraus zu erkennen.

Sinja parkte den Wagen im Hof. Carola und Gisbert stiegen als erste aus und ließen die Blicke schweifen. Die Läden des mit Backstein ausgemauerten Fachwerkhaues waren verschlossen. Quecke und wilde Kamille stachen aus den Pflasterspalten empor. Sinja ließ das Schaf aus dem Kofferraum, das sich nicht lange am Unkraut aufhielt, sondern hinterm Haus verschwand. Die Zweibeiner folgten ihm und erblickten es emsig knabbernd im kniehohen Gras des Bauerngartens. Gisbert und Carola schauten Sinja fragend an.

Geschmacksgedächtnis

„Oma Gertrud wohnt schon lange nicht mehr hier. Vor vier Jahren hat sie sich den Oberschenkelhals gebrochen und konnte sich nicht mehr allein versorgen. Meine Eltern haben sie in die Nähe von uns geholt. Dort lebt sie in einem Seniorenstift und ist inzwischen mittelgradig dement. Ihr Geist reist oft zurück zu ihrem früheren Zuhause. Das wühlt sie aber total auf. Sie glaubt dann, der Amtstierarzt kommt, um den Hühnerstall zu inspizieren, oder dass die Himbeerernte unbedingt vor dem Starkregen eingebracht werden muss.

Bei meinem letzten Besuch habe ich ihr versprochen, die Beeren rechtzeitig zu pflücken. Deswegen bin ich hier. Morgen zum Frühstück soll Oma sie auf dem Tisch haben. So wirr der Verstand auch ist, ihr Geschmacksgedächtnis erkennt bestimmt noch die eigenen Früchte. Sie lässt sich halt nicht mit der überzüchteten Importware aus Peru abspeisen“, erzählte Sinja. Sie holte die Behälter aus dem Rucksack und machte sich schweigend ans Pflücken. Gisbert und Carola folgten ihrem Beispiel.

Die drei waren zügig vorangekommen. Sie hatten nur die reifsten und schönstens Früchte geerntet, so behutsam, als wären es rohe Eier. Die vollen Plastikdosen waren in der Kühltasche verstaut. Bald wollten sie die Rückfahrt antreten und ruhten sich vorher noch ein wenig aus. Gisbert lehnte am Stamm eines Apfelbaums. Die Finger waren rot verfärbt und seine Arme zierten einige Kratzer. Er wollte sich diesen Sommernachmittag inmitten des verwilderten Bauerngartens für immer einprägen: Den samtig-süßen Geschmack auf der Zunge, Sinja, die barfuß durch das Gras schlenderte, Carola, die das Schaf mit übrigen Himbeeren fütterte, das Grillenzirpen, das leise an sein Ohr drang. Welch ein Glück.

Titel-Foto: Stan Slade / Unsplash

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