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Schnee – Kurzgeschichte von Peter Müller

Schnee

Schnee

Eine Kurzgeschichte von Peter Müller

Peter Müller ist in Ost-Berlin geboren, hat Spaß am Schreiben und Sport, hatte lange Zeit angenommen, unkaputtbar zu sein, bis ein Sportunfall die Lüge aufdeckte, und als allein Erziehender überrascht, von der Härte der Nuss und dass man immer nur einen Versuch hat.
Der Autor hat bei schreibwerk berlin Online-Kurse besucht und diese Geschichte im Schreiburlaub in Chania beendet.
(Fotos: Peter Müller)

Schnee ist eine Kurzgeschichte, die das Vater-Sohn-Verhältnis in einen schneereichen Konflikt kleidet. Sie spielt im kanadischen Winter

Eins

Draußen waren Minus 25 Grad Celsius. Harald ließ den Motor laufen, während Mike zum Diner rannte, um Kaffee zu besorgen. Hier ließen alle Leute ihre Autos laufen, selbst beim Tanken. Er war neugierig, was Mike dazu sagen würde.
Mike sagte nichts dazu, als er zurückkehrte. Hielt Harald den Becher hin, kuschelte die Schultern in das Polster der Rückenlehne und schlug die Tür zu.

„Kalt, was? Dein Parka ist ziemlich dünn.“

Mike schob die Mütze tiefer in die Stirn. Die langen, rotblonden Haare fielen ihm auf die Schultern.

„Kanadischer Winter.“

„Und wir mittendrin.“

Mike pustete in seinen Becher. Harald fuhr vom Parkplatz und aus Calgary hinaus. Die Straße war geräumt, gespritzt und glänzte. Am Straßenrand türmte sich ein bröckliges Gemisch aus Schnee und Eis zu einem Wall auf.

„Heute schlafen wir in Banff und morgen sind wir in Revelstoke. Wir haben ein Hotel direkt am Lift.“

Harald blickte hinüber. Mike sah aus dem Seitenfenster, Bart und Haare verdeckten sein Gesicht. Gib ihm Zeit, dachte Harald, wir müssen gemeinsam Zeit verbringen.
Er lächelte die Frontscheibe an, für den Fall, dass Mike zu ihm rüber schaute.

„Ich dachte, am ersten Tag erkunden wir das Gelände, probieren uns ein wenig aus. Und am nächsten Tag fahren wir querfeldein. Revelstoke ist bekannt für seine Unberührtheit, lichten Wälder und ungemachten Pisten. Letzte Woche hat es noch einmal geschneit und es soll wärmer werden.“

„Wann ist dein Geburtstag?“, fragte Mike und fummelte am Radio.

Harald schluckte, fuhr langsamer, sah auf Mikes Hände, lange Finger, die ohne Hast einen Sender suchten.

„Am Mittwoch. Also in vier Tagen.“

Harald erhöhte das Tempo, überholte einen Truck, der braunen Schneeschlamm an die Scheibe spritze.

„In Revelstoke selbst ist nicht so viel los. Aber vielleicht finden wir eine anständige Bar und wir trinken was zusammen?“

„Ah.“ Mike lehnte sich zurück, aus den Lautsprechern krachte Highway to Hell  in den Innenraum. „Gut.“

„Klar“, schrie Harald und dachte, dass es so schlecht nicht anfing.

Zwei

Harald war schnell gefahren und es war einfach passiert. Es hatte ihn abgehoben, ein Stück war er geflogen und jetzt lag er mit dem Gesicht nach unten. Bewegungslos sondierte er seinen Körper, erkundete Arme, Hals und den Rücken, im linken Bein blieb er hängen. Er brach die Sondierung ab und dachte flüchtig, dass der Vorsprung dahin sei. Es ärgerte und amüsierte ihn zugleich. Er brauchte mehr Luft. Harald hob den Kopf, schmeckte den Schnee auf den Lippen und rollte auf den Rücken. Er sackte in den Schnee wie in einen weichen Sessel und als er das linke Bein strecken wollte, war der Schmerz da. Er gab es auf. Der Schmerz blieb, heftig und unmissverständlich. Harald legte den Oberkörper zurück, schob das Visier nach oben und blickte in die Wipfel der Tannen, die licht standen und zwischen denen er im Rausch der Fahrt einen Weg hinab gesucht hatte.

Es war friedlich und das gefiel ihm.

„Vater?“

Harald hob den Kopf.

Mike hielt einen Ski in der Hand. „Wo ist der andere?“ Er grinste.

Harald schüttelte den Kopf. Er hatte keine Lust zu reden. Er würde kotzen, sobald er den Mund öffnete.

„Hab dich mal nicht so.“ Mikes Lächeln verschwand. „Spätestens am Hang hätte ich dich eingeholt.“ Er pikste den Ski in den Schnee.

„Keine Ahnung.“ Harald senkte den Hinterkopf auf die Schneedecke.

„Alles in Ordnung?“

„Ich weiß nicht. Sieh mal, ob du den anderen Ski findest.“

Mike stapfte herum, spreizte die Ski V-förmig und kraxelte ihre Spur, an den Tannen vorbei, den Berg hinauf. Harald hörte ihn schnaufen und merkte, dass er gern hier lag, in der Mulde, eingesunken im lockeren Pulverschnee und davon zugedeckt. Er fühlte sich leicht und die Geräusche waren gedämpft und auch der Schmerz im Bein schien gedämpft, weit weg, als gehörte es nicht zu ihm. Er fand es schön, den Ski nicht suchen zu müssen, dass Mike das machte.

„Nicht zu finden.“ Mike schob die Skibrille auf den Helm und seine Stimme klang, als würde er einen Fahrplan vorlesen.

Er verlässt sich auf dich, war das Erste, was Harald dazu durch den Kopf schoss. Wie immer, wie damals nach dem Abitur, als Mike einfach darauf zu warten schien, dass irgendwas passierte. Das jemand eine Tüte Ideen in den Briefkasten warf, während er vor der Glotze abhing. Es machte ihn zornig.

„Na, dann bleibe ich einfach hier liegen, bis die nächste Straßenbahn kommt.“

Mike drehte sich um die Achse.

„Keine Haltstelle.“ Er lachte.

„Das ist kein beschissenes Videospiel.“

Er sah seine eigene Wut an Mikes Gesicht, in seinen Augen. Mike zog sich zurück, rümpfte die Nase, als wäre Haralds Wut eine greifbare Wolke aus giftigen Gasen, die durch die klare Bergwelt trieb.

Harald robbte rücklings aus der Mulde, bedacht, das linke Bein nicht zu belasten, wühlte den Schnee auf und kam nicht voran. Er warf sich auf die rechte Seite und vermied es, Mike anzuschauen.

„Was ist los?“

„Hilf mir mal.“

Mike warf die Skistöcke beiseite, rutschte hinter Harald und griff ihm unter die Achseln.

„So schlimm?“

„Dorthin. An den Baumstamm.“ Harald fuchtelte mit dem Arm.

„Hier sind nur Bäume.“

Mike, über ihn gebeugt, schnaufte und der warme Atem traf Haralds Gesicht. Es roch nach alter Milch.

„Egal. Hilf mir einfach. Ich will mich anlehnen.“

Mike zerrte ihn durch den Schnee.

„Das Bein? Ist es gebrochen?“

„Vielleicht. Ich weiß es nicht.“ Harald wollte heulen.

„Scheiße. Warum sagst du das nicht gleich.“

„Ja verdammt.“ 

„Kein Empfang.“ Mike stopfte das Telefon in die Innentasche und zog die Jacke zu.

Er stand auf. „Ich such noch mal.“

Harald hockte auf einem Bündel Zweige, die Mike abgebrochen und am Stamm einer Fichte aufgeschichtet hatte. Solange er stillsaß, war der Schmerz ein dumpfer Druck und eine Besorgnis. Eine Messerklinge, die bei einer unbedachten Bewegung in sein Fleisch schneiden würde. Harald lehnte den Kopf an den Stamm.

Mike stocherte mit den Skistöcken im Schnee herum, wobei er bei jedem Schritt bis übers Knie einsank. Er fluchte laut.

Selbst wenn Mike den Ski fand, würde er damit nicht fahren können. Harald ging auf, dass Mike keine Idee hatte und eine Beschäftigung brauchte. Er hatte auch keine und wusste nicht, ob das Mike klar war. Harald blickte hinauf in die dunklen Wipfel der Tannen, die im leichten Wind wie Pinsel eines Riesen über den klaren, blauen Himmel strichen. Bis zum Steilhang waren es bestimmt noch vier oder fünf Kilometer und unterhalb des Hangs wurde das Gelände bucklig, bis zur Hütte an der Seilbahn. Soweit Harald wusste, gab es keine Skipiste auf diesem Stück. Genau das war es, was ihn hierhergebracht hatte. Unberührtes Gelände und die Vorstellung, weitab zu sein. Oder war es nur sein Wunsch gewesen, weil er die Stadt, angefüllt mit Hast und Lärm, in der jeder vorgab, etwas Besonderes zu sein, nicht mehr ertrug? Vielleicht war es auch nur die Angst gewesen, dass Mike nicht nach Berlin gekommen wäre.

„Lass es.“

Mike hob den Kopf und wischte die triefende Nase ab. „Was?“

„Du sollst es lassen.“ Harald stützte die Arme auf und hob den Hintern an. Die Kälte war auf dem Vormarsch und hatte bereits die Unterwäsche überrannt. Er streckte und beugte in kurzen Abständen die Arme.

Mike stapfte heran. „Und jetzt?“

„Sammle Holz. Wir machen ein Feuer und dann fährst du runter. Eine Stunde bis zum Tal. Da wird es Leute vom Bergrettungsdienst geben, die wissen, was zu tun ist.“

Mike ließ den Blick schweifen. „Und wenn wir dich nicht wiederfinden?“

„Dann fahrt ihr die Route noch einmal ab. Das dauert vielleicht ein, zwei Stunden. Es hat nicht geschneit und unsere Spur sollte gut zu sehen sein. Bis zur Dämmerung kannst du zurück sein. Oder sie haben Hubschrauber. Was weiß ich denn.“

„Nein.“

Harald ließ sich auf das Reisigpolster plumpsen. Er wusste nicht, was ihn mehr anstrengte, das Gerede oder die improvisierten Beugestützen.

Anderseits, wer wusste, wo sie wirklich waren? In jedem Wald konnte man sich schnell verlaufen, also auch in diesem. Harald zog die Karte aus der Jackentasche. Das war ein Nationalpark, mit Wildhütern, Unterständen und Stationen für Exkursionen.

„Ich kann dich stützen“, sagte Mike, als hätte er ein Heilmittel gegen Aids gefunden.

Harald ließ den Blick auf der Karte.

„Wir gehen zusammen runter.“

„Wir laufen?“ Harald schloss die Augen und wollte Mikes Stimme ausblenden.

„Wir fahren. Du fährst auf einem Ski und ich halte dich.“

„Was für eine Pisse. Hast du zu viele Scheißfilme gesehen? Mein Bein tut mir höllisch weh. Es ist vielleicht gebrochen. Ich will es überhaupt nicht bewegen. Nicht irgendwo anstoßen.“

„Dann werde ich dich ziehen.“

 Drei

Mikes Stimme klang wie an dem Tag, als Katze Karl starb. Am Morgen hatte Harald vergessen, die Fenster zu schließen, und Katze Karl war über den Balkon in den Hof spaziert, um sich nach einem Sprint auf die Grünstraße überfahren zu lassen, genau in dem Moment, als Harald aus der Haustür trat.

Mike hatte auf seinem Weg zur Schule von der Haltestelle aus alles mit angesehen, er winkte Harald zum Abschied, als Karl im Radkasten verschwand. Er war sofort zu Harald gerannt, das Gesicht aufgerissen und rot, als wäre er durch eine Dornenhecke gelaufen. Harald stand in der Einfahrt und überlegte, wie er das blutige Fellbündel von der Straße bekam.

„So etwas passiert“, hatte Harald gesagt und Mike hatte die Arme um ihn geworfen und in Haralds Hemd geweint. Damals war Mike vierzehn und Harald erschien es absurd, diesen großen Jungen zu halten

Harald blinzelte. Mike hatte Tränen in den Augen. Er war immer noch vierzehn, immer noch darauf aus, sich festzuhalten. „Du hast Schiss, allein loszufahren.“

Mike schüttelte den Kopf und schniefte. „Ich suche weiter.“

Harald stöhnte.

„Zeitverschwendung“, sagte er leise und dämmerte weg. Hinter den geschlossenen Lidern war es angenehm. Mikes Stapfen im Schnee entfernte sich, dann blieb nur noch das Knacken der Baumstämme im Wind. Es rauschte, er war auf dem Meer. Auf einem Schiff, wie in seiner Jugend bei der Handelsflotte. Es schaukelte, kalte Gischt schlug ihm auf die nackte Haut und die See hob an und ließ ihn fallen. Harald riss die Augen auf, drehte den Kopf und erbrach sich. Der Skihelm wog jetzt eine Tonne, zog an ihm und sein Hals würde jeden Moment abbrechen. Harald nestelte am Verschluss und gab es auf. Er betrachtete die schaumige, braune Brühe im Schnee. Die Jacke hatte ihren Teil abbekommen. Schmierige Fladen liefen über den gelben Stoff. Haralds Blick wanderte weiter und blieb an seinem Bein hängen. Er wollte nicht wissen, wie es unter der Hose aussah. Vielleicht konnte man den Knochen sehen oder es war das Knie. Der Schmerz war so umfassend, dass er ihn nicht lokalisieren konnte. Er wagte nicht, das Bein anzufassen. Die Ängstlichkeit überraschte Harald und zugleich widerte ihn die Beeinträchtigung, die Unfähigkeit, sich aus eigener Kraft zu bewegen, an. Die Sache war neu und eine Demütigung. Er erinnerte sich an keine derartige Verletzung.

„Sieh mal.“

„Was?“ Harald schwindelte, als er aufsah.

Mike präsentierte den zweiten Ski wie eine Trophäe in seiner Hand. Die Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet.

„Toll.“ Harald zuckte mit den Schultern.

„Kakao mit Rum.“ Mike lächelte. „Ich hab noch was im Rucksack.“

Da von Harald nichts zurückkam, verschwand das Lächeln rasch. Mike schob Schnee über die braune Lache.

„Ich brauche deinen Schal und den Gürtel.“

„Scheiße. Was wird das? Fahr runter und hol Hilfe.“

„Hör auf, Vater. Ich bau einen Schlitten. Du kannst hier nicht allein bleiben.“

„Du kannst ja nicht mal einen Küchenregal anbringen.“

Harald konnte sehen, wie Mike sich erinnerte. Schnell, die Erinnerung war sofort da.

Das Regal war abgestürzt und das Geschirr, zusammen mit Mikes Stolz auf den Küchenfliesen zerschellt. Er hatte das Regal ohne Dübel montiert. Frau Holm, ihre Haushälterin, hatte geschrien, geseufzt und dann alles auffegen wollen. Harald hatte sie weggezogen. „Das macht der Junge selbst“, hatte er gesagt und die alte Frau aus der Küche geschoben.

„Die alte Holm hat mir wohl, bei all der Stickerei, vergessen zu sagen, wofür man Dübel benutzt.“ Mikes Stimme klang dumpf, wie die Axt auf einem morschen Baum.

Harald hob die Hand. „Die Holm hat getan, was sie konnte.“

„Nur mir nicht gezeigt, wie man Regale anbringt.“

„Das war nicht ihre Aufgabe. Sie sollte auf dich aufpassen.“

„Genau. Dübelsachen machen Väter mit ihren Söhnen.“

Harald seufzte. Daran kam er nicht vorbei.

„Also?“

Sie sahen sich an.

„Gib mir deinen Gürtel und ich versuche einen Schlitten zu bauen.“ Mike zögerte. „Ich glaube, dafür brauchen wir keine Dübel.“

Harald kicherte. „Das beruhigt ungemein.“

Mike brauchte ewig und Harald dämmerte mehrmals weg. Als er aufwachte, lag er im Schatten und ihm war kalt. Mike hatte aus mehreren Ästen, die er als Distanzstücke verwendet hatte, den Skiriemen und ihren zwei Gürteln etwas gebaut, das ein flacher Schlitten mit einem Zugriemen sein sollte.

Der Zugriemen, Mikes Gürtel, war mit seinem Rucksack verknotet und lag vor dem Gefährt wie ein übergroßer Marienkäfer auf der Schneedecke.

Harald starrte auf das Konstrukt. Mike merkte, dass er wach war und stapfte auf ihn zu. Der Schnee quietschte.

„Also los.“ Mike packte Harald an den Schultern, hob ihn an.

Der Schmerz kam sofort und heftig. Harald fuchtelte mit den Armen und schlug nach Mike. „Aufhören.“

„Entschuldigung.“

Mike ließ ihn in den Schnee plumpsen und trat ein Stück zurück. Mit der abgedunkelten Skibrille auf dem Helm und den schwarzen Skiklamotten glich Mike einer radioaktiv verstrahlten Kakerlake aus einem B-Movie, die darauf aus war, ihn zu peinigen.

Mit dem Schmerz schwappte Wut in Harald Kopf. Wut auf Mike, der nichts auszustehen hatte. Der einfach nur dastand. Harald sah weg, sog die kalte Luft durch die Nase, die hart war und in den Nasenflügeln brannte.

„Gut, dass du keine Krankenschwester geworden bist. Ich mach das selbst.“

„Krankenschwestern sind brutale Wesen und jagen Patienten ohne jedes Mitgefühl durch die Praxen dieser Welt.“

„Ja, Ja. Was für ein Poet.“ Harald schenkte Mike ein mattes Lächeln.

Er atmete mehrmals tief ein, entspannte die Muskulatur und robbte, auf die Ellenbogen gestützt, rücklings auf den Schlitten zu. Er würde den Schmerz kontrollieren, ihn wegdenken. Dann war alles weg.

Harald erwachte. Mike kniete und rieb ihm Schnee auf Stirn und Mund.

„Verdammt, es reicht.“ Harald drückte Mikes Hand fort.

„Ja“, sagte Mike und stand auf. „Ich muss noch dein Bein festbinden.“

Harald schwieg.

Mike stapfte in einem Bogen an Haralds Bein, hockte sich nieder, sah ihn an und nickte.

Harald streckte das Kinn. „Erste-Hilfe-Kurs?“

„Krankenpfleger aus Leidenschaft, kein Mitleid.“

Mike lachte und schlang die Schals um Haralds schlimmes Bein und den Ski.

Harald stöhnte, während Mike den Knoten strammzog. Er biss in den Stoff der Ski-Jacke, Tränen in den Augen.

„Wie ist es?“

Harald blinzelte, konnte Mike nur verschwommen erkennen und drehte den Kopf zur Seite. So wollte er nicht gesehen werden und brauchte einige Sekunden, bevor er antworten konnte. Er langte in den Schnee, schob sich eine Portion Schnee in den Mund und würgte daran herum.

„Alles klar.“

Mike zog die Nase hoch. Wollte offenbar etwas sagen und ließ es bleiben. Harald war ihm dankbar.

Mike trat an Harald vorbei, befestigte das Gefährt mit dem Gürtel am Klettverschluss seines Rucksacks, ging in die Hocke und streifte ihn über.

Harald wurde angehoben. Als Mike aus den Knien hochkam und die Ski sich bogen, dachte er, dass alles auseinanderfallen würde.

(Foto von Tomas Malik auf unsplash)

Vier

Mike klinkte die Ski ein und griff nach seinen Skistöcken. „Versuch, dich festzuhalten.“

„Ok.“ Harald streckte die Arme und klammerte die Finger um die Skibindung. Mike stapfte los. Harald hörte ihn stoßweise atmen, als hätte er in der Brust eine Maschine angelassen.

Der provisorische Schlitten kippte seitlich in den Hang. Harald versuchte, den Fall mit dem Oberkörper auszugleichen.

„Nicht zappeln.“

Für einen Moment war Harald versucht, Mike anzubrüllen, dann hatte er begriffen, wie er liegen musste und schwieg.

Mike zuckelte weiter, schräg zum Gefälle. Harald ging auf, dass sie auf diese Weise wer weiß wo ankamen. Es würde zu lange dauern. Länger als er so liegen konnte.

„Wir müssen runter vom Berg.“ Was glaubte Mike, wie lange er sich so halten konnte.

„Ich weiß das, Vater.

Das Gefährt holperte über eine Wurzel. Haralds Bein wurde durchgeschüttelt und der Schmerz krachte wie eine Axt in sein Bewusstsein.

„Aufpassen.“

Mike schnaufte inhaltslos und stapfte weiter.

Harald war nicht klar, ob er ihn überhaupt gehört hatte. Er schloss die Augen, bemüht, tief zu atmen. Die Axt verschwand aus seinem Hirn und hinterließ einen dumpfen Druck.

Die Kälte kehrte zurück und Harald spürte kaum mehr die Zehen. Skischuhe und Füße waren zu einem einzigen Klumpen verschmolzen, erstarrt und leblos.

Mike blieb stehen.

„Was machst du?“, rief Harald nach oben in den Himmel.

„Ich suche eine Schneise.“

Mike ruckte an, sie glitten weiter und bogen nach links um einen Baum und kamen in Fahrt. Die Wipfel flitzten über Haralds Gesichtsfeld, kratzten an der blauen Kuppel.

Mike fuhr jetzt sanfte Bögen.

Harald feixte und hätte Mike gerne auf die Schulter geklopft, ihn in den Arm genommen. So wie an dem Tag, als er mit dem Abitur nach Hause gekommen war. Der Tag war verschüttet, wie ein Pokal, den niemand mehr wollte auf dem Fußboden des Alltags zerbrochen. Mikes Gequassel über die Zukunft, die im Internet verwehte und einem matten Mastschwein Platz machte, das den Trog nicht verlassen wollte. Den Fernseher als Fenster, in Erwartung des Futtermeisters. Er hatte es gesehen, jeden Abend, wenn er heimkam, in Mikes Augen und der Stimme, die wie Sirup im Wohnzimmer klebte. Eine Stimme, die jede Idee zur Unmöglichkeit umformulierte, die Harald Hitze unter die Kopfhaut trieb, dass er glaubte, sie würde verbrennen und die er nur in einem Wortschwall abkühlen konnte. Worte, die Mike schluckte wie ein Sack Watte. Er hatte Mikes Lethargie nie verstanden, es war ihm fremd, tatenlos den Tag verstreichen zu lassen, wie eine fremde Sprache. Ein Wörterbuch wurde nicht mitgeliefert, in keinem Erziehungsratgeber.

Jetzt hier, umgeben von verschneiten Tannen, deren Äste gebogen unter der Schneelast, klaglos ausharrten, hätte er ihn gerne gefragt. Weil sie raus waren aus ihrem Mief aus Vorwürfen und nicht erfüllten Erwartungen, der sich in dem Kabuff, der ihr Hort sein sollte, immer weiter aufgestaut hatte.

Harald legte das Kinn an, versuchte, Mikes Bewegung mit dem Oberkörper zu folgen, ihm das Fahren zu erleichtern, verfolgte ihre Spur auf dem ansonsten unberührten Weiß der Schneedecke, das Wippen und Eintauchen der Ski in die glitzernde Fläche. Er lauschte auf das Rauschen der Ski, Mikes Atem, der wie das gedämpfte Schnauben einer Lokomotive die Luft ausfüllte.

Es war eine Plackerei. Mike reibt sich für dich auf, der Gedanke hinterließ einen Anflug von Scham, die sich in seinem Magen sammelte und zu einem festen Klumpen zusammenzog. Harald schluchzte auf, einen flüchtigen Moment verwirrt, forschte er in seinem Inneren nach der Ursache. Er brach es ab. Vielleicht war es der Schmerz, das schlimme Bein, das ihn verwirrte und die Abhängigkeit, die das mit sich brachte.

Aber vielleicht, dachte Harald, verstand Mike doch mehr von dem, was zu tun war und wann.

Was er nie gesehen hatte, weil sein Blick ein anderer gewesen war. Weil die Zeit eine andere war. Ihn damals eine Ungeduld gequält hatte, eine egoistische Ungeduld, die Zeit als knappe Währung erkannte, die Kindern fremd war. Vielleicht hatte er auch einfach keine Kraft mehr gehabt.

Harald wandte den Kopf. Die beschneiten Tannen standen jetzt dichter. Mike fuhr eine Kurve und Harald konnte das Tal sehen, weites schwarzweißes Land unter einem blauen, flachen Himmel. Schneekristalle, vom Sonnenlicht goldgesprenkelt, tanzten im Wind, webten einen Schleier in der Luft.

Der Wind brach sich am Berg.

Hier waren sie gestern nicht vorbeigekommen. Dieser Hang fiel viel stärker ab.

Mike setzte zu einem weiteren Bogen an.

„Nein. Nein. Achtung.“

Harald krachte in den Schnee. Er löste den Griff und riss die Hände vor das Gesicht. Den Kopf voran sank er ein, ruderte mit den Armen, um Platz zu schaffen. Platz zum Atmen. Seine Beine schlugen aneinander. Der Schmerz jagte am linken Bein empor, hackte auf sein Hirn ein und löschte für einen Augenblick alles andere aus. Harald wurde schwindlig, er konnte nicht sehen. Der Schmerz war eine Klaue, die sich in seine Magenwände grub. Harald schwitze, würgte und die Übelkeit zwang ihn, Galle zu kotzten.

Es summte in den Ohren, als hätte er schweren Tinnitus nach einer Sauforgie.

Etwas zerrte und zog an seiner Schulter. Harald brüllte und landete auf dem Rücken. Als er wieder klar wurde, sah er Mike, bis zur Hüfte eingesunken, im Schnee kauern.

„Vater.“

„Was?“, Harald drehte den Kopf und spuckte bittere Stücke aus.

„Ist alles…“ Mikes Stimme verlor sich in einem Flüstern.

„Ja. Alles prima.“ Harald lachte auf, dumpf und hart, er konnte es nicht verhindern.

Eine Weile sagten sie nichts.

Harald wälzte sich herum, suchte nach einer Position ohne Schmerzen, gab es auf und starrte nach oben in den glatten Himmel, der ihm nun wie eine Wand erschien. Er dachte an nichts und überließ sich dem Schmerz.

„Was für eine Scheiße.“

„Der Hang fällt dort hinten ziemlich steil ab.“ Mikes Stimme klang zögerlich, als wartete er darauf, dass Harald ihn unterbrechen würde. „Wie in eine Rinne.“

Harald sah nicht zu ihm hin. Er sah auf den Himmel und dachte, dass er gleich herabstürzen und ihn zerquetschen würde. Wie ein Insekt, das hier nichts zu suchen hatte. Er würde es begrüßen.

 

Mike richtete sich auf, zumindest versuchte er es und kraxelte durch den Tiefschnee davon. Bis zum Gürtel vergraben, die Arme wie Flügel ausgebreitet, schaufelte er sich vorwärts. Harald hörte ihn keuchen und fragte nicht, was er vorhatte, er merkte, dass er keine Lust hatte, darüber nachzudenken.

Wie zu der Zeit, als Mike immer häufiger nicht da war, wenn er die Tür aufschloss und eine leere Wohnung betrat. Er war froh, nicht sehen zu müssen, wie Mike seine Zeit in den Abfluss kippte, er war froh, nicht fragen zu müssen, sich Gedanken zu machen. Froh, allein zu sein. Ohne Umschweife die nicht geschafften Mails durchzugehen. Als hätte sich das Problem Mike allein durch seine Abwesenheit erledigt. Er hatte es genossen.

Vielleicht verschwand Mike auch jetzt. Wenn Mike weg war, konnte er einfach hier liegen bleiben. Er hatte nichts, worum er sich kümmern müsste. Keine allzu schlechte Situation, dachte Harald und merkte, dass er grinste.

Mike müsste dann allein klarkommen hier draußen, kein Tippen auf der Playstation, die in einer überheizten Bude stand, die kalte Cola griffbereit.

Harald kippte auf die Seite, sah an sich vorbei. Der Schal hatte sich teilweise gelöst, der provisorische Schlitten lag wie ein Häufchen Treibgut im Schneeozean, zerwühlt, als wäre eine heftige Böe hineingefahren. Er löste den Schal endgültig, zerrte die Ski heran, bis sie quer vor ihm lagen und stütze die Unterarme auf ihnen ab. Jedenfalls ist mir nicht mehr kalt, aber das wird noch kommen, dachte er und spähte zu Mike.

Am Waldrand lehnten zwei orangefarbene Latten am Stamm einer kargen Fichte, sie strahlten im Sonnlicht wie Warnschilder. Mike winkte ihm zu. Wo er stand, schien der Schnee nicht tief.

„Soll ich jetzt zu dir kommen oder was?“ Harald schlug sich mit der Hand an den Helm.

„Nein“, Mike schrie und lief um den Baum. „Kein Schnee. Ich helf dir.“

Fünf

Der Platz war gut, lag leicht erhöht, mit einem gerundeten Felsen zum Unterholz, am Waldrand. Die Sonne würde hier den ganzen Tag scheinen und Mike hatte mit einem vertrockneten Ast die dünne Schneedecke beseitigt. Vielleicht zwei Quadratmeter mit Blick auf die glitzernde Schneedecke, durch die ihre Fahrspur verlief, bis sie abrupt in das aufgewühlte Loch endete, an deren Rändern sich die verbliebenen Bestandteile von Mikes Konstruktion verstreuten wie schwarze Socken auf einem weißen Laken.

Haralds schlimmes Bein lag ausgestreckt auf dem Waldboden, wie ein unbrauchbares Werkzeug. Er lehnte am Felsbrocken und spürte die Härte des Steins an der Wirbelsäule.

„Dafür würden andere Leute eine Menge Geld bezahlen.“

Mike trat aus den Bäumen hervor, eine Armladung Äste dabei und hob das bärtige Kinn Richtung Hang.

Er sieht älter aus, dachte Harald. Der Bart macht ihn alt, als hätte er wer weiß wie viel Erfahrung.

„Kein Empfang“, sagte Harald und steckte das Telefon in die Inntasche seiner Jacke.

„Dafür habe ich Holz gefunden“, sagte Mike fröhlich. „Einen ganzen Stapel, gesägt und aufgeschichtet, vielleicht hundert Meter entfernt. Ein Teil ist klein genug, dass wir damit hier Feuer machen können.“ Er zögerte kurz. „Wie du wolltest.“

„Erstaunlich.“ Harald fummelte den Pistenplan, der auch Teile der Umgebung zeigte, aus der Seitentasche seiner Hose. Er versuchte sich zu orientieren.

„Wir brauchen noch mehr Holz“, sagte er ohne aufzublicken.

„Klar.“

„Klar. Du hast noch nie Feuer gemacht.“

„Du hast nie mit mir ein Lagerfeuer gemacht.“

„Wir haben in der Stadt gewohnt. Nicht im Wald. Wenn du dich erinnerst.“

„Die alte Holm war mit mir im Wald. Pilze sammeln. Daran erinnere ich mich.“

„Dann weißt du ja, wie sammeln geht.“

Harald wusste, dass Mike ihn jetzt ansah, fühlte den Blick im Nacken.

„Ich will es nur …“

„Nicht jetzt, Mike. Los.“ Und dann überraschte ihn seine Zunge. „Bitte.“

So leicht ist das also, dachte Harald, als Mike im Wald untertauchte. Er seufzte.

Auf der Karte fand er sich nicht zurecht. Irgendwo hatte er dieses Exkursionszentrum für Schulklassen gesehen. Oder nur davon gelesen? Er sah über den Hang hinweg ins Tal. Alles sah anders aus als gestern. Er hatte keine Ahnung, wo sie genau waren. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er wäre ganz woanders. Der Traum kam aus dem Nichts, erfüllte ihn ohne sein Zutun. Die Sonne war jetzt sehr heiß, schuf helle Flecken hinter den Augenlidern und für einen flüchtigen Moment hatte er alles vergessen, war körperlos, einfach verschwunden.

Harald riss die Augen auf, röchelte, der Mund stand ihm offen, der Hals war schmerzhaft eingetrocknet. Er brauchte einen Atemzug, um klar zu werden. Er knüllte die Karte zusammen, hackte mit dem rechten Skischuh in das angetaute Erdreich, riss den Arm vors Gesicht und brüllte hinein.

Dann holte er gierig Luft, dachte an die Seminare für Führungskräfte, angeführt von dieser lächerlichen Yogatante, und begann tief und gleichmäßig zu atmen, bis weit in den Bauch hinein.

Er glättete die Karte, als Mike zurückkehrte, die Ladung ablud und ohne ein Wort erneut verschwand. 

(Foto von Peter Müller)

Sechs

„Hätte nicht gedacht, dass uns Rauchen mal den Arsch rettet“, sagte Mike und blies ins Feuer. Er hatte mit Haralds Ski eine Mulde in die angetaute Erde gekratzt und darin Reisig und zartes Geäst aufgehäuft. Taschentücher hielten als Zündstoff her. Dass Mike kompromisslos einen tausend Euro Ski als Spaten missbrauchte, fand er beachtlich.

„Und du kannst ja offensichtlich Feuer machen.“

„Seminargruppenausflug, viertes Semester, Wildwasserfahrt im Allgäu.“ Mike sah zu ihm hin. Die Augen offen und weich.

„Du und Wasser?“

„Was meinst du?“

„Nichts.“ Harald nickte zum Feuer. „Lass es nicht zu groß werden.“

„Wir haben genug. Und ich könnte noch mehr holen.“

„In der Nacht? Was soll der Firlefanz. Wir wissen doch nicht mal, wo wir genau sind.“

„Das Feuer wird man sehen, den Rauch.“ Mike zeigte nach oben. „Wenn sie im Hotel bemerken, dass wir nicht das sind, wird man wissen, was der Rauch bedeutet.“

„Die werden einen Scheiß wissen. Was haben wir noch an Essen dabei?“

„Vier Energieriegel und die halbe Thermosflasche mit Lumumba. Nicht viel für einen Tanz ums Feuer.“ Mike hockte jetzt auf den Knien vor der Feuerstelle. Er lächelte versonnen, dunkle Erdschmiere und grauen Rußflusen an der grellgrünen Skihose, die Hände von der gefrorenen Rinde zerschabt. Das rötlichblonde Haar glühte, als fielen die Sonnenstrahlen auf einen Kupferkessel voller Geheimnisse. Von Zeit zu Zeit beugte er sich vor und pustete sanft in die Flammen, beschäftigt und vertieft in die Aufgabe. Der Rest war still. Harald sah seinen Sohn. Das Kind, den Mann und etwas wie eine zerbrochene Flasche. Und vielleicht sagte er es deshalb, oder weil er Angst hatte, dass es nicht noch einmal so sein würde.

„Damals wärst du fast ertrunken.“

Mike hob den Kopf, sachte, als fürchtete er, jede andere Bewegung könnte die Stimme des Vaters verscheuchen.

„Du warst vielleicht drei. Deine Mutter war mit dir in Spanien. An der Atlantikküste surfen. Sie war draußen in den Wellen, und die Leute, die auf dich aufpassen sollten, mussten unbedingt ficken, statt auf dich achtzugeben. Dann kam die Flut und spülte dich fort. Ein Spanier hat dich gerettet. Ich glaube, deshalb bist du nie ein guter Schwimmer geworden.“ Harald hielt inne. „Das wars. Das war das mit dem Wasser.“

Ein dünner Rauchstreifen stieg gerade in den Himmel. Unsichtbar vor der Dunkelheit des Waldes, dachte Harald und schaute auf die weite Schneedecke. Und wartete auf die Frage.

In der Feuerstelle zerbarst ein Zweig, es knackte und Funken stiegen auf.

„Und meine Mutter. Du hast sie verlassen? Deshalb?“

Mikes Augen hingen in den Flammen fest.

„Blödsinn, verdammt. Nein.“ Haralds Stimme rollte über Mike hinweg, lauter als er es wollte. Mikes Kopf fiel nach vorn, als hätte Harald eine Kopfnuss ausgeteilt. Geschlagen hatte er Mike nie. Ihn so zu sehen, trieb Harald die Tränen in die Augen. „Deine Mutter hat es nicht ausgehalten.“

„Mit dir?“

„Sie hat uns geliebt. Auf jeden Fall dich. Sie war ein Freigeist, Mike. Immer unterwegs, ihren Neoprenanzug im Gepäck, auf der Suche nach einem guten Spot. Ich bot ihr ein Familienleben. Und für sie war es wohl, als hätte ich sie in einen tiefen Schacht geworfen.“ Harald räusperte sich. „Ich glaube, sie hat es wirklich versucht. Daran solltest du denken.“

Mike fuhrwerkte mit einem Ast in der Glut. „Du hast es mir nie erzählt. Du hast gesagt, sie wäre auf einer Expedition in den Anden verschollen.“

„Ja.“ Haralds Hals verkrampfte. Er bekam kaum Luft und schluckte heftig.

„Warum? Was ist das für ein Mist.“

„Sie hat uns im Stich gelassen.“

Mike lachte auf, schlug die Hände auf die Oberschenkel.

„Weil du sauer warst. Angepisst, fünfundzwanzig Jahre. Das ist krank.“ Mike schüttelte den Kopf.

Harald wollte jetzt aufstehen, an Mikes Seite, wollte ihn in den Arm nehmen wie damals vor der Toreinfahrt.

Mike griff nach einem Ast und richtete das verkohlte Ende auf Harald. Qualm kräuselte um das Holz.

Wie ein Zauberer, dachte Harald, der dir die Wahrheit aus dem Kopf zieht und jetzt wirst du gerichtet. Er spürte einen Widerstand, vage erst, im Hals, im Magen und auf der Haut, dann blockierte sein ganzer Körper.

„Und dann wolltest du es allein hinkriegen. Der ganzen Welt beweisen, dass du es allein hinbekommst. Oder vielleicht war es dir auch nur peinlich. Dem starken Harald, dem die Frau für ein paar Wellen wegläuft.“

„Nein. Ich weiß es nicht mehr.“ Harald zog die Nase hoch und spuckte aus. „Was sollte ich denn machen. Dir sagen, dass ich dich fünfundzwanzig Jahre angelogen habe.“

„Genau das.“

„Mike!“

„Ach hör auf. Ich ertrage es nicht.“ Mike winkte ab und schlug den Ast in die Flammen.

Harald lehnte den Hinterkopf an den Felsen, fühlte die Härte und atmete aus.

„Warum jetzt.“

„Weil du jetzt allein nach unten musst.“

Sieben

Mike sah hinauf in die Wipfel. Er zitterte.

Harald sah auf das Telefon. Kurz nach eins, sie hatten genug Zeit mit dem Schlittenbau und Wir-schaffen-das-zusammen-Mumpitz vertrödelt. Mike hatte seinen Willen gehabt, vielleicht würde ihm das irgendwann auffallen, jetzt war es egal. Harald spürte die Unruhe in seinem Magen Bläschen schlagen, Kohlensäure, die in seine Nerven wanderte, und ihn quirlig werden ließ. Er hatte keine Lust, darauf zu warten, bis Mike erwachsen werden wollte, hier oben eine hässliche Nacht zu verbringen oder womöglich zu verrecken. Keine Lust, darauf zu warten, bis Mike die Situation von selbst verstand.

„Du hast es die ganze Zeit vorgehabt? Deshalb das viele Holz.“

„Ja“, Harald zuckte mit den Schultern. „Es war von Anfang an klar, dass ich hier oben warten muss. Du hättest heute früh sofort abfahren müssen.“

„Weil du immer weißt, was richtig ist? Wo es langgeht? Null Vertrauen in mich hast.“

Harald verdrehte die Augen, dachte daran, wie das aussehen musste und biss sich auf die Lippen.

Mike umrundete die Feuerstelle, hob und senkte die Arme, als wollte er davonfliegen.

„Es spielt doch überhaupt keine Rolle, was ich in deinen Augen alles falsch gemacht habe. Dass wir jetzt alles richtig machen, allein das ist wichtig!“ Er sagte es klar und langsam.

Mike fing an zu weinen. Übergangslos, die Tränen waren in seinen Augen, dick, schwer und liefen über die Wangen in den gestutzten Bart, als hätte er ihn genau dafür wachsen lassen. Um seinen Kummer zu verbergen, ihn aufzufangen.

Jetzt sieht er nicht mehr alt und erfahren aus, dachte Harald, jetzt sieht er aus wie ein Knabe, der ein großes Badehandtuch braucht, wenn er aus dem kalten Wasser kommt.

„Papa.“

„Ich weiß“, sagte Harald weich.

Wie lange ist das her, dass ich so mit ihm gesprochen habe, dachte Harald und sein Blick verschwamm. Er hatte keinen Bart, ihm liefen die Tränen in die Mundwinkel, salziger Kummer, als ihm aufging, dass Mike nicht wollte, dass auch er weg war.

„Lass es uns zusammen entscheiden.“ Harald wischte sich über das Gesicht, presste Daumen und Zeigefinger in die Nase.

Mike schniefte, sah von ihm weg, bekam einen Schluckauf, Harald wartete.

Getragen von einer Böe wirbelten Schneekristalle über die Schneise, tanzten einen funkelnden Reigen und verschwanden, als ein Wolkenzipfel sich vor die Sonne schob. Für einen Moment wurde es kühler, dann war die Sonne zurück.

„Ok“, sagte Mike, die Sonnstrahlen im Rücken, als Schattenriss vor der blendenden Fläche. „Ich hole noch etwas Holz, dann sehen wir zusammen auf die Karte.“

„Gut“, sagte Harald, obwohl er es für Zeitverschwendung hielt. „Gute Idee.“ Er lächelte.

 

„Iss einen Rigel und den zweiten nimmst du mit“, sagte Harald.

Mike nickte, zitterte, als müsste er eine Prüfung absolvieren. Und vielleicht war es das ja auch. Sie sahen auf die Karte, Mike kaute laut, als wollte er die Panik, den Weg nicht zu finden, hinunterschlucken.

Aus zwei unterarmdicken Ästen und den Skiriemen hatten sie eine Schiene für Haralds Bein gebastelt, stramm angezogen und zusätzlich Mikes Schal darum verknotet. Harald hatte geschrien und hätte eine Menge Geld für eine Packung Ibuprofen bezahlt. In der Tat konnte Harald jetzt, mit den Skistöcken als Krücken, um den Baum und an das Feuer humpeln.

Mike zeigte auf die Karte. „Vielleicht sind wir doch eher hier. Dann wäre dort die Seilbahn.“

„Ich weiß nicht. Fahr langsam, vielleicht siehst du Spuren“, sagte Harald und wollte fahr schnell rufen. Er faltete die Karte zusammen und schob sie Mike in die Jacke. Er lachte, als er sagte: „Auf jeden Fall musst du nach unten.“

Sie sahen über den Hang ins Tal. Ein heftiger Windstoß sprühte pulvrigen Schnee über die weiße Fläche.

„Der Wind nimmt zu. Oder?“

„Kommt und geht“, sagte Harald und hoffte, dass es teilnahmslos klang.

Mike schien es plötzlich eilig zu haben, bückte sich und schloss die Skischuhe. Er stülpte den Helm über, warf die Ski in den Schnee, zwei orangefarbene Schlangen, streifte die Handschuhe über und fädelte die Schlaufen der Skistöcke über die Handgelenke. Klopfte mit den Stöcken Schmutz und Schneereste von den Schuhen und klinkte sich in die Bindung ein, dann zog er die verspiegelte Skibrille herunter.

Mike drehte mehrmals den Oberkörper und wandte sich ihm zu. Harald wusste nicht, wohin er sehen sollte. Mikes Augen waren weg. „Die Jacke.“

Mike nickte und zog den Reißverschluss nach oben. Jetzt war nur noch Mikes Nase da.

„Also los.“ Harald hob die Hand. „Erstmal nach links.“

„Ok. Ich fahr los”, sagte Mike, dumpf hinter dem Kragen, wartete einen Atemzug lang, drückte die Stöcke in den Schnee und stieß sich ab.

Mikes grüner Skianzug wurde mit der Entfernung dunkel, dann schwarz, dann war Mike ein Punkt auf der weißen Fläche und dann war er weg. Harald war allein. Alles war still.

Das war seltsam. Warten, er hatte nicht viel Erfahrung im Warten, darauf, dass andere die Dinge erledigten.

Harald sackte zusammen. Der Schmerz war eine Bestie, jetzt, da er ihn wieder zuließ. Vielleicht war der Knoten zu stramm, vielleicht war es auch etwas anders.

Harald streckte sich zum Feuer und dachte, dass Mike nicht wusste, wie seine Mutter aussah, dass er ihm nie ein Foto gezeigt hatte und dass heute vielleicht dieser Tag war, an dem man sich alles hätte sagen können. Dann schlief er ein.

Acht

Die Sonne war nur noch ein grauer Ball, als er aufwachte. Das schlimme Bein pochte. Ihm war kalt. Harald sah zum Feuer, ein Gluthaufen war noch übrig. Er blies in die klammen Finger, dann schob er dünne Zweige nach und pustete sanft in die heiße Asche, bis die ersten Flammen züngelten.

Er atmete auf und fingerte das Telefon aus der Jacke. Der Reißverschluss knarzte in der Kälte. Sechzehn Uhr und noch fünf Prozent Akkuleistung. Die Kälte hatte den Akku leergesaugt. Er verbrauchte zwei Atemzüge, um das zu verarbeiten. Harald schaltete das Telefon ab, steckte es zurück und legte Holz nach.

Mike war jetzt vielleicht zwei Stunden weg, in einer Stunde würde er ein größeres Feuer machen müssen, überlegte Harald, dann wäre es dunkel und niemand würde ihn finden. Dann dachte er darüber nach, ob es im Nationalpark Bären oder Wölfe gab, dann darüber, was passieren würde, wenn niemand kam, um ihn zu suchen, dann dachte er, dass er besser nicht darüber nachdenken sollte.

Das Feuer wärmte. Es wurde heller, die schlimmen Gedanken verflogen. Harald wälzte sich herum, begann das von Mike gesammelte Holz dichter an die Feuerstelle zu bugsieren.

Dabei ging ihm auf, dass er Mike eine Menge Verantwortung aufgehalst hatte und nicht wusste, wie es ihm selbst damit ergangen wäre. Und dass Mike vielleicht gar nicht so falsch gelegen hatte mit dem Versuch, sie gleich und zusammen nach unten zu bekommen.

Harald hielt inne, sah Mike allein am Flugplatz von Calgary stehen, der Himmel grau, wie der Beton zu seinen Füßen, die Luft hart von der Kälte. Auf dem Monitor blinkte eine Anzeige auf: Die Mutter abgehauen und den Vater konnte er nicht retten. Guten Flug nach Hause.

Harald schüttelte sich, griff nach dem nächsten Holz, schichtete es auf.

Dann gab es nichts mehr zu tun. Einen Meter hinter der Feuerstelle war es stockdunkel. Die Welt war jetzt ein Kreis.

Harald lauschte. Nichts, nur das Holz barst und knackte. Funken sprühten. Was für ein Glück, dass Mike den Holzstapel entdeckt hatte. War er eigentlich weitergelaufen, hatte er nach einer Holzfällerhütte Ausschau gehalten? Hatte Mike daran gedacht? Sie hatten nicht darüber gesprochen. Harald spürte einen Anflug von Wut aufkeimen. Er zog den Rucksack zu sich und zerrte die Thermosflasche heraus.

Kakao mit Rum, bestens geeignet für eine Rast auf einem Felsen im Sonnenschein. Er schraubte den Deckel auf und trank direkt aus der Flasche, setzte ab, trank einen zweiten Schluck. An Strohrum hatte Mike nicht gespart.

Der Schmerz im Bein schwand, langsam, wie Schnee auf der Haut.

Harald legte Holz nach, die Kanne in der Hand, trank erneut, sah zu, wie das Feuer größer wurde, legte noch mehr Holz nach, beobachtete die Flammen, die im Wind zur Seite ausschlugen, kippten und sich wieder aufrichteten.

Ihm war warm. Er öffnete die Jacke, robbte vom Feuer weg und Kakao schwappte aus der Thermosflasche.

„Nein. Nein“, rief er und seine eigene Stimme überraschte ihn. Er suchte den Deckel, tastete über den Waldboden, fand nichts als feuchte Erde, trank den Rest und warf die Flasche in die Dunkelheit.

Haralds Gesicht glühte. Er hatte das Holz zu dicht an der Feuerstelle gestapelt. Mit dem Hinkefuß kam er nicht schnell genug hin und wieder weg. Harald lachte, als er es begriff und rollte auf das Feuer zu, stieß Äste hinein und rollte zurück, und wieder, dann wurde ihm schwindlig. Mit dem schlimmen Bein schlug er auf etwas Hartes, eine Wurzel, er schrie und blieb auf dem Bauch liegen.

Harald keuchte, stützte sich auf, spähte zum Feuer, das jetzt groß war. Die Hitze schlug auf ihn ein. Der Schwindel wollte nicht weichen. Harald riss den Mund auf und erbrach sich.

Er kicherte, als ihm der Gedanke kam, dass er so gefunden werden würde. Mit offener Jacke in der eigenen Kotze.

Die Vorstellung weckte einen Funken Energie, um sich auf die Seite zu wälzen. Das Feuer rauschte, die Flammen waren vielleicht zwei, drei Meter hoch, schlenkerten im Wind und warfen einen gelblichen Schein auf die Schneefläche, einladend, als wollten sie ihn hinauslocken.

Der Anblick hielt ihn gefangen, bis ihm aufging, dass er nach einer Bewegung, einer Gestalt Ausschau hielt.

Haralds Rücken kühlte aus. Er fühlte eine Berührung im Nacken, vage, zart und feucht. Er schlug mit der Hand aus, schrie in das diffuse Schattenreich hinter sich, robbte, immer noch auf der Seite liegend, vorwärts, sah sich um und suchte die Umgebung ab. Ein Tannenzweig, schwer und nass vom Schnee, wippte im Wind, flackerte im Feuerschein auf und verschwand wie eine Taschenlampe im Wald.

Harald ließ sich auf den Waldboden sinken, spürte das feuchte Erdreich am Hinterkopf, das muffig und süß roch und taste nach dem Telefon. Es war fort. Harald suchte weiter, ungläubig, mechanisch und verteilte nur die Schmiere aus Erbrochenem und Erde, die an seinen Fingern klebte, im Innenfutter der Jacke. Es blieb dabei. Harald versuchte darüber nachzudenken, wie spät sein könnte, bis er sich eingestehen musste, dass er das Zeitgefühl verloren hatte und er von hier verschwinden musste.

Die Flammen wurden kleiner.

Der Gedanke war klar und deutlich, es erstaunte Harald, dass er nicht eher daran gedacht hatte. Eine Zeitlang grübelte er, wie er es anstellen sollte, die Ski waren da, er könnte sich die Beine zusammenbinden, so das schlimme Bein entlasten und immer geradeaus fahren. Der Vorstellung gefiel ihm, er drehte und wendete den Gedanken im Kopf wie einen Würfel, einen Film, den er vor und zurück spulte, jeden Handgriff vorhersah. Dann bekam er Angst. Angst vor den Schmerzen, die kommen würden, die er ertragen müsste. Darüber wurde er wütend. Wie armselig, dachte Harald, er hatte Bücher gelesen über Leute, die im Himalaya unterwegs waren, verwundet und ausgelaugt den Weg ins Basislager gesucht hatten. „Ja, auf der Couch“, sagte Harald laut. „Aber jetzt musst du auch mal ran. Hier kommt niemand.“

Noch während er den Worten nachlauschte, wusste er bereits, dass er es nicht tun würde.

Also blieb nur, die Hütte zu suchen. Jeder, der hier oben Holz fällt, hatte auch eine Hütte in der Nähe.

Die Vorstellung ergriff Besitz von Harald, er sah die Hütte geduckt zwischen den Tannen, den gelblichen Schein der Fenster unter einem tiefen Dach und den Rauch darüber aus einem Kamin aufsteigen.

„Ja, so ist es Mike“, rief Harald in die Nacht. „Ich werde diese verdammte Hütte suchen.“

Das Feuer war jetzt zusammengefallen. Ein kläglicher Rest war übriggeblieben. Genug für einen Kindergeburtstag, aber kein Leuchtfeuer in der Dunkelheit, das Mike den Weg weisen könnte. Niemand würde ihn jetzt noch finden.

Er musste in Bewegung bleiben. Das war seine Aufgabe, das konnte er schaffen, der Kälte trotzen, auch wenn es die ganze Nacht dauern würde.

Der Wind hing als Rauschen in den Kronen der Bäume, befeuerte das letzte Holz, ließ es noch einmal auflodern.

Harald raffte den Rucksack an sich. Zog Handschuhe und Mütze heraus, er scheute das zusätzliche Gewicht des Skihelms, hätte ohnehin nicht gewusst, wo er ihn liegengelassen hatte und suchte im Flammenschein nach den Skistöcken, kraxelte darauf zu, froh über die weißen Griffe, die in der Nacht im Feuerschein leuchteten wie kleine LED-Lämpchen.

Harald prüfte den Knoten des Schals, mahnte sich zur Ruhe und versuchte, ein Stück von seinem Energieriegel zu essen, zwecklos, er brachte nichts runter und verstaute das angebissene Stück in der Jackentasche. Den Rucksack gab er auf. Darin war nichts mehr, was ihm helfen konnte. Dann streifte er Mütze und Handschuhe über.

Als er so weit war, packte er die Skistöcke mit der linken Hand und zog sich mit der anderen am Baum hoch, an dem vor einer Ewigkeit Mikes Ski gelehnt hatten.

Der Schmerz war heftig. Harald schlugen die Zähne aufeinander, ihm wurde schwindlig, so dass er den Stamm umarmte wie ein betrunkener Tänzer.

„Das geht. Es wird gehen.“ Harald keuchte, merkte, dass er in die Rinde biss, das Holz schmeckte süß, vielleicht war es auch sein Blut, dann verschwand der Taumel und der Schmerz zog sich als pochende Warnung zurück.

Harald richtete den Blick auf Mikes Fußabdrücke, folgte ihnen zwischen den Bäumen, verlagerte sein Gewicht auf die Skistöcke und torkelte voran.

Es brauchte einen Moment, bis er herausfand, wie er zu laufen hatte, dass der Schmerz erträglich blieb, die Skistöcke voran, piksen, aufstützen und das gesunde Bein hinterher, ohnehin verhinderten die klobigen Skistiefel eine schnelle Gangart. Der Mond leuchtete ruckartig wie eine Ölfunzel durch die wogenden Fichten, Schnee stob von ihren Zweigen, wirbelte vom Wind getragen auf und tanzte als feiner Dunst um Harald. Seine Oberarme und Schultern verkrampften durch das stetige Aufstützen. Beide Trizepse waren jetzt aufgespannt wie Holzkeile unter der Haut. Die Handgelenke verdreht und weich.

Von Zeit zu Zeit hielt er inne, an einen Baum gelehnt, wartete, bis der Atem sich beruhigte und lauschte, hoffte auf einen Ruf, einen Schrei im Rauschen des Windes zu hören.

Hier war kein Mensch.

Egal, dachte Harald und den Blick stur gesengt stakste er weiter, schlug fast hin, als er gegen den Stapel aus gesägtem Holz stieß.

Er ruhte auf einem der Stämme, der Schweiß lief an ihm herunter, dass die Unterwäsche an seinem Rücken klebte, und versuchte, sich im Zwielicht für eine Richtung zu entscheiden. In der Tat war Mike weitergelaufen, die Spur, jetzt eine dunkle Rinne, führte am Holzstapel vorbei. Vielleicht war Mike nicht weit genug gelaufen?

Harald schüttelte die Arme aus.

Weil er keine andere Idee hatte, schlug er dieselbe Richtung ein. Als er aufstand, zitterten ihm die Oberschenkel und er war versucht, sich wieder hinzusetzen.

Er humpelte weiter. Die Schritte setzten in seinem Kopf eine Mechanik in Gang. Harald begann zu zählen. Zehn Schritte, dann begann er von vorn. Und wieder. Dann verlor er die Spur oder Mike war an dieser Stelle umgekehrt. Seltsamerweise erfüllte ihn die Tatsache mit einer Art Hoffnung. Er versuchte darüber nachzudenken. Es gelang ihm nicht, er musste zählen, das Zählen war wichtig. Das wusste er mit Bestimmtheit. Würde er damit aufhören, würden seine Beine anhalten, würde alles aufhören. Zehn.

Das Schneegestöber nahm zu, war jetzt eine grauweiße Masse, die in seinen Mund wollte, um ihm den Atem zu stehlen. Zehn.

Zehn.

Etwas stand vor ihm, unbeeindruckt von Schnee und Wind, als gehörte es hierher. Größer als Harald, größer als Mike, an den Rändern faserte es aus, flusig, struppig.

Zehn.

Harald bog ab, verweigerte das Gesehene.

Fünf.

Der Boden gab nach. Harald strauchelte, fiel, Äste brachen, kratzen über sein Gesicht, rissen die Mütze fort, Schnee rauschte auf ihn nieder und er begann zu rutschen, als ihn etwas festhielt, hart an der Kapuze packte, der Reißverschluss in den Hals schnitt und ihm die Luft wegblieb. Was blieb, bis zum Schluss, war ein langgezogenes Brummen und das Gefühl von Pelz an seinem Ohr.

Neun

Das Gesicht hatte matte graue Augen, eingefallene Wangen, wie von zu wenig Schlaf oder zu viel Sport. Der Mund wirkte zu breit für das schmale Gesicht, schien an den Seiten überzustehen, vielleicht lag es an der grellen Sonne, die es durch die großen Fenster beschien und die Konturen nachzeichnete, wie ein Bildhauer die wahre Natur.

Der Mund sprach, zeigte reine Zähne und ein Lächeln, das nach Bedauern aussah.

Harald hörte nichts, schaute nur zu, dann weg, auf das bandagierte Bein auf dem Laken, hinauf an die Decke und zurück, in das Gesicht der Ärztin.

Sie war fertig.

„Ist mein Sohn hier?“, seine Stimme klang wie immer, was ihn irritierte, wie in einer Konferenz mit den Kollegen. Einzig das bandagierte Bein war anders, aus irgendeinem Grund hatte er angenommen, dass jetzt alles anders wäre.

Die Ärztin hob die Hand, schüttelte den Kopf und Harald spürte ein Ziehen im Magen, das bis in seinen Hals wanderte.

Dann wurde die Tür aufgestoßen und ein Mann bückte sich in das Krankenzimmer. Die Ärztin machte einen Satz an die Seite, plötzlich war das Zimmer voll. An dem Besucher war alles struppig, Bart, Haar, selbst der Pullover, er kam auf Harald zu, lachte, und schlug in Haralds Hand ein, als hätten sie die Weltmeisterschaft gewonnen. Die Hand war wie eine Tasche derbes Leder.

„Schön, dass es Ihnen wieder gut geht. Wollte nur mal nachschauen.“ Er hielt inne, schien zu überlegen, legte die Hand den Hals und kratzte sich ausgiebig. „Die Skipässe haben wir ihnen allerdings abgenommen. Achten Sie bei ihrem nächsten Besuch auf die Boundary Line.“ Er lachte erneut, zwinkerte der Ärztin zu, langte nach der Türklinke als wollte er sie abbrechen und drehte sich noch einmal um.

„Und laufen Sie nicht wieder vor mir weg, wenn Ihr Sohn uns um Hilfe bittet. Andererseits war das ziemlich beachtlich.“

Er hob den Daumen und grinste.

Harald schluckte und hob ebenfalls den Daumen.

Dann war er draußen. Die Tür schlug zu.

Harald hörte ihn etwas, was er nicht verstand, in den Krankenhausflur rufen.

„Lawinenwacht“, sagte die Ärztin und hustete. „Nette Leute, wenn man auf sie hört.“

 

Am nächsten Tag war Mike da. Als er durch die Tür trat, hielt er seinen Parka in der Hand, mit dem er in Calgary aus dem Flugzeug gestiegen war.

„Vater?“

„Ich bin wach.“ Harald richtete sich auf, rückte ein Stück zur Seite.

Mike zog einen grün lackierten Stuhl über den PVC-Belag heran, setzte sich, und legte den Parka über die Oberschenkel. Er hielt einen Umschlag in der Hand. „Deine Diagnose.“

Harald nickte.

Mike fuhr mit der Hand vor, legte den Umschlag auf den freien Platz neben Harald und strich sich die Haare hinter das Ohr. Harald sah, dass der Umschlag verknittert war, Mike darin gelesen hatte.

Harald schaute auf.

Mikes Bart hing wie ein Schild vor seinem Gesicht und die Augen waren schon nicht mehr hier.

 

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