Von Krisen und Konstellationen: Aspekte des Erzählens
Am Beispiel der ARD-Themenwoche „Stadt.Land.Wandel“
Wo es Konflikte gibt, da kochen die Gemüter. Nur eine/r freut sich: die/der AutorIn. Denn in Krisen, Auseinandersetzungen und Streit stecken die besten Geschichten. Was wir im wirklichen Leben vermeiden, ist für das Erzählen konstitutiv. Davon können wir, wenn wir Romane und Geschichten schreiben, profitieren. Der Gegensatz von Meinungen, Menschen und Mentalitäten bringt Entwicklung ins Spiel.
Ein Beispiel: Die ARD beschäftigte sich im November 2021 mit dem Thema: „Stadt.Land.Wandel – wo ist die Zukunft zu Hause?“.
In crastinum (lat.) bedeutet: der morgige Tag. Procrastinare(oder auf Deutsch: prokrastinieren) meint also so viel wie: auf Morgen verschieben. Alle, die kreativ arbeiten, wissen, wie das Verschieben auf den nächsten Morgen und den übernächsten usw. funktioniert. Und wir alle kennen das schlechte Gewissen, das damit einher geht.
Während andere Menschen aus anderen Ländern das Meer in sich („Mar adentro“) haben, schleppen wir Deutschen das Dorf in uns herum. Wir ziehen ins Kleine, andere ins Große. Wir Deutschen lieben die Sicherheit mehr als alles andere. Im Kleinen scheint sie uns gegeben oder zumindest ein erreichbares Ziel. Das war auch schon zu Biedermeier-Zeiten so.
Sicher gibt es gute Gründe für diesen Rückzug in anheimelnde Gefilde. Die Mieten in der Stadt steigen, das Klima spielt verrückt, Flüchtlinge und Kriege kommen (uns) immer näher – und das bald auch noch ohne Angela Merkel! Umwälzungen aller Gesellschaften sind dringend geboten, doch niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird. Wir sind verunsichert. Also gehen wir (mental) erst einmal dorthin, wo wir herkommen – und ziehen aufs (meist norddeutsche) Dorf. Zumindest im Roman.
Literatur schreiben oder Fiction Writing – die Kunst des Schreibens
Fiction Writing bedeutet, Literatur zu schreiben. Vielleicht eine Kurzgeschichte oder einen Roman. Sie ERFINDEN eine Geschichte, die nicht wahr ist, aber wahr sein könnte. Literarisches Schreiben ist also kein Journalismus, sondern Ausbeutung des Lebens, der Wirklichkeit. In diese hinein erfinden wir Geschichten, die in ihr passiert sein oder noch passieren könnten. Oder in einer vollständig erfundenen Wirklichkeit, wenn Sie Science-Fiction schreiben.
Schreiben ist dynamisch und abwechslungsreich. Es kann uns in den Flow bringen und uns die Welt um uns herum vergessen lassen. Wir erweitern unseren Horizont, schärfen unsere Sinne und machen uns bereit, die Möglichkeiten einer Geschichte zu erkennen und zu verfolgen. Wir begeben uns also in eine Situation der Offenheit. Dabei können einige wenige Worte genügen, und schon knistert und prickelt es in der Luft. Es wird leidenschaftlich und poetisch oder spannend und geheimnisvoll.
Keine wahren oder unwahren Geschichten
Es gibt keine wahren oder unwahren Geschichten. Wichtig ist, was wir für möglich halten. Selbst die wunderlichsten Geschichten, wie z.B. die Lügengeschichten des Barons von Münchhausen, erscheinen während der Lektüre glaubwürdig. Weil sie in der Welt, die geschildert wird, einen glaubwürdigen Rahmen haben.
Durch das Schreibenschaffen wir eine eigene Welt. Vielleicht eine schönere, vielleicht eine, in der die Helden noch richtige Kämpfer sind und die größten Gefahren meistern. Vielleicht eine, die fantastisch ist wie das Wonderland von Alice, in der die Gesetze der wirklichen Welt nicht gelten. Oder in der man von Planet zu Planet spaziert wie Der Kleine Prinz von Antoine de St. Exupéry.
Ursula Sinemus starb im Mai 2019, zwei Jahre später erschien ihr posthumes Werk “Kaleidoskop des Schweigens” – durch Ko-Autorschaft von Hanne Landbeck. Bisher hatte sie zwei Romane veröffentlicht: Späte Lieben (2008) und Das Leben gehört den Lebenden (2012). Sie ist ein Beispiel dafür, dass man auch nach der Berufstätigkeit als Schriftstellerin erfolgreich sein kann.
Ursula Sinemus
Kaleidoskop des Schweigens ist ein Familienroman über mehrere Generationen, Frauengenerationen: Lina kommt für ein Studienjahr aus den USA nach Deutschland, wo sie zum ersten Mal ihrer Oma Lotte begegnet. Die beiden Frauen beginnen, die Familiengeschichte zu schreiben. Lotte hat viel verschwiegen in ihrem Leben, eine Forke spielt eine Rolle, ein Schweinestall und eine quiekende männliche Sau. Auch ihre Tochter Eva schweigt: über ihre Rolle im Terrorismus und in der Familie. Und Linas Mutter hat sich in die USA abgesetzt. Wird es Lina gelingen, das Knäuel zu entwirren? Wird sie die Frauen zusammenbringen? Schließlich geht es mit Riesenschritten auf Lottes 90.Geburtstag zu … Ein Roman über vier Frauen, vier Generationen und ein Jahrhundert.
Das fragen sich viele Autor:innen, und wir möchten hier etwas Licht ins Dunkel des Gesprächs bringen.
Perfekt als literarische Mittel der Figurenführung
Dialoge sind ideal, um eine Geschichte voranzutreiben, Spannung aufzubauen und um Lügen zu entlarven. Oder um deren böses Werk anrichten zu lassen. Die Gesprächspartner können auch um Verzeihung bitten, etwas gestehen, vielleicht sogar jemanden verraten. Oder einfach nur Informationen vermitteln, die der andere Gesprächspartner (und der Leser) bisher nicht kennen kann. Dialoge sind perfekt als Mittel der Figurenführung im Text – und deshalb entscheidend für die Dramaturgie. Auch bringen sie durchaus Dynamik und Abwechslung in den Text.
Literarische Dialoge sind niemals zufällig
Wir sprechen im Leben miteinander, ohne groß darüber nachzudenken. Ein Wort ergibt das andere – und wenn wir nicht wissen, worüber wir sprechen sollen, machen wir eben Small talk.
Darüber hinaus benutzen wir im Leben unglaublich viele Füllwörter: Äh, also, ja … Solche Füllsel rutschen im normalen Gespräch – auch beim Telefonieren – einfach so aus unseren Mündern. Und gehen danach im Geräusch des Lebens einfach unter.
Aber in der Literatur ist das anders. Literarische Dialoge sind niemals zufällig. AutorInnen setzen sie zu bestimmten Zwecken ein: Sie charakterisieren damit die Sprecher, sie geben Informationen über Vergangenes oder sie machen Andeutungen; sie vermitteln Botschaften über Abwesende oder sie bestimmen das Verhältnis der Sprechenden zueinander. Dialoge in der Literatur sind in wichtigen Situationen und Szenen einerGeschichte sinnvoll.
Stolz und froh können wir die Neuerscheinung von Franziska Hauser verkünden:
Die Gewitterschwimmerin
Franziska Hauser arbeitet, wenn sie nicht schreibt, auch für schreibwerk berlin – jeden ersten Donnerstagabend im Monat unterrichtet sie Kreatives Schreiben im Prenzlauer Berg. Die Schriftstellerin arbeitet auch als Fotografin, hat zwei Kinder und lebt in Berlin.
Der Roman ist ein sehr gelungenes Beispiel dafür, wie (im weitesten Sinn) autobiographisches Schreiben fiktionalisiert werden kann – ähnlich wie Karl Ove Knausgård musste auch Franziska Hauser ihre Familienmitglieder um das Einverständnis zur Veröffentlichung bitten, allerdings hat sie dafür nicht ihr ganzes Leben riskiert.
Da Franziska eine Fotografin mit viel Fantasie ist, hat sie in einer Art Selfie-Reihe ihre Gefühle beim Schreiben illustriert, die wir in den Text einfügen.
Nach Ihrem Debütroman Sommerdreieck (Rowohlt, 2015) erscheint nun mit Die Gewitterschwimmerin Ihr zweiter Roman, der von Ihrer eigenen Familiengeschichte inspiriert worden ist. Wie ist die Idee zu Die Gewitterschwimmerin entstanden?
Angefangen habe ich mit der Gewitterschwimmerin schon vor Sommerdreieck. Die Gewitterschwimmerin brauchte sieben Jahre. Entstanden ist die Idee aus der Frage, warum meine Mutter so ein Biest geworden war. Ich fing an, in der Vergangenheit zu wühlen und plötzlich fielen mir so viele ungeheuerliche Zusammenhänge auf, die weit auseinander liegende Ereignisse miteinander vernetzten, dass ich anfangen musste, diese Verknüpfungen aufzuschreiben und aufzuzeichnen. Die Geschichte bildete sich von selbst, ich musste nur ihre Grenzen bestimmen und die inner-familiären Helden von den Sockeln werfen, um frei erzählen zu können.
Was hat es mit dem Titel Die Gewitterschwimmerin auf sich?
Die Gewitterschwimmerin ist meine Mutter, die Ich-Erzählerin, die bei jedem Gewitter schwimmen ging, um sich in ihrer überheblichen Todessehnsucht mit den Elementen anzulegen.
Was sind die zentralen Erzählthemen in Ihrem neuen Roman?
Es ist die Geschichte einer trotzigen Familie, die sich nie anpassen wollte, es letztendlich aber doch getan hat.
“Hummer satt”: Die Short Story ist im Speed-Writing entstanden. Das gibt es bei uns auf Nachfrage.
Autorin Beate van den Berg lebt in Berlin
Hummer satt!
Lieber Cruiser als Loser
Neben mir sitzt Frau Kirsch. Sie macht wie ich ihre Rente zum Erlebnis und beglückt alle Anwesenden am „Round table“ während des Abendbüffets regelmäßig mit dem etwas zu laut geratenen Schlachtruf „Lieber Cruiser als Loser. Stimmt doch, oder?“ Die manchmal pikiert wirkenden Blicke ihrer Büffetgenossen ignoriert sie ebenso wie ihre kleine Speckrolle um die Hüften, die ihr den Genuss von Aal in Gelee eigentlich verbieten müsste. Egal, Frau Kirsch macht ihrer rheinländischen Herkunft alle Ehre und sorgt dafür, dass am Tisch keine störenden Denkpausen entstehen.