ADS – Ausnahme.Danke.Situation – von Nadine Obermüller
ADS – AUSNAHME-DANKE-SITUATION
VON NADINE OBERMÜLLER
Nadine Obermüller lebt in Berlin und schreibt dort humoristische Prosa und den ein oder anderen Witz auf den Twitter-Alternativen Bluesky und Threads. Kernthemen in ihren Texten sind Neurodiversität, Introvertiertheit, Social Media und Hasen.
Der Text ist im Online-Kurs Literarisches Schreiben entstanden
FEBRUAR 2020 KARTON
Der Karton, in dem sie sich versteckte, stand auf einer Europalette im hintersten Regal des Rewe-Lagers. Ein zweifacher Vibrationston ertönte. Hey, machst du heute etwa keine Mittagspause, mein altes Hausi? – statt Mausi nannten sich alle im Betrieb mittlerweile Hausi – die WhatsApp-Nachricht der Kollegin aus der Frischwarenabteilung ließ Toni hochschrecken. Instinktiv drückte sie ihre Hände flach auf die Plastikfolie, mit der sie ihre angewinkelten Beine in der kühlen Schachtel bedeckte. Es durfte nicht zu viel rascheln, sonst war ihr Versteck verraten. Da die eineinhalb Meter hohe Box beinahe so hoch wie das Regalfach selbst war, hatte sie sich mit einem Cutter Zugang von der Seite verschafft und eine kleine Tür in den Karton geschnitten. Diese Klappe musste sorgfältig geschlossen werden, da sie sonst Tonis wie vakuumverpackt aussehende Jeans und die schwarzen Converse-Schuhe freilegte – und ebenfalls ihr Versteck verraten würde.
Toni tippte: Bitte lach nicht, Hausi, aber ich habe mich in einem Karton vor Ronny versteckt – 😂 wo genau? – Reihe 10. Ich bin ihm heute schon drei Mal begegnet, und beim Döner und Bäcker nebenan ist er auch ständig, ich kann nicht mehr 🙁 Bitte sag’s niemand …
Die Kollegin schwor auf ihr Grab, sie würde nichts verraten. Wobei: Wie viel war das wert? Konnte man überhaupt auf das eigene Grab schwören? Schwor man nicht immer auf das Grab von bereits Verstorbenen? Von Toten, die man liebte und deren Namen man daher auf keinen Fall posthum entehren wollte? Auf dem mittlerweile stumm geschalteten Smartphone leuchtete eine neue Nachricht auf und riss Toni aus den Gedanken: Denk dran, nur noch drei Tage, dann hast du’s geschafft. Halt durch 💔
Toni lehnte sich zurück, der Karton bot nicht viel Halt, aber ein wenig. Sie hob ihr T-Shirt an und legte ihre kühle Hand etwas oberhalb des linken Eierstocks ab. Sie atmete tief ein und aus und murmelte vor sich hin: „Das erste Mal vor dem Backofen bei den Backwaren um acht Uhr, das zweite Mal bei den SB-Kassen um neun Uhr dreißig und das dritte Mal um elf Uhr direkt vor den grausam gesunden Fruchtsäften.“ Bei der letzten Begegnung war Ronny sogar vor Scham über das „Frisch gewischt“-Schild direkt vor dem Sauerkrautsaft gestolpert. Sie mussten beide kurz lachen, aber dann fiel ihnen wieder ein, dass sie nicht mehr zusammen waren und dass sie daher vermutlich auch nicht mehr zusammen lachen sollten. Wenn Ronny bald in der neuen Filiale arbeitete, hatte sich die Lach-Frage ohnehin erledigt.
Plötzlich hörte Toni einen Hubwagen anrattern. Keinen Gabelstapler, für den man eine Schulung brauchte, sondern ein klapperndes, manuell zu bedienendes Modell, das von Hand durch die Regalreihen geschoben und gezogen werden musste. Toni erstarrte wie ein Kaninchen kurz vor der Entdeckung durch einen Fuchs. Ein beißendes, betont männliches Aftershave lag in der Luft, das zumindest nicht von Ronny stammen konnte. Ronny roch nach feinen Lavendelnoten, im Gegensatz zu diesem duftgewordenen Chemieunfall. Was tun? Rausspringen und gestehen? Oder stillhalten und hoffen? Der Hubwagen hörte auf zu klappern. Die Person fädelte ihn in die Europalette ein. Durch die Hubbewegungen hob sich Tonis Karton langsam nach oben, und die Palette wurde mit Gefühl aus dem Regal manövriert. Ein hoher Schrei folgte. „Oh Gott, da ist ne’ Leiche drin!“ Der sechzehnjährige Praktikant rannte schneller davon, als Toni reagieren konnte. Sie zögerte, sprang schließlich aus dem Karton und lief zügig zur Hintertür des Lagers. Für einen Moment hielt sie noch mal inne, als sie die Türklinke in der Hand hatte, verließ dann aber mit hochrotem Kopf das Firmengebäude in Richtung Bäcker.